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Die Wissenschaft vom Menschen

Für das Selbstverständnis des Menschen ist das Problem der Willensfreiheit von zentraler Bedeutung: Die meisten psychischen Prozesse spielen sich nicht einfach im Gehirn ab, sondern Entscheidungen entstehen in einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt, Individuum und Gesellschaft. Solche Entscheidungen sind umso freier, je bewusster sie getroffen werden können, und um diese Freiheit zu erhöhen, gilt es, möglichst viel über die äußeren Einflüsse auf die psychischen Prozesse zu erfahren und diese aktiv zu reflektieren, also auch die Randbedingungen für Entscheidungen zu verbessern. Es waren übrigens die Medien, die die berühmten Libet-Experimente vor allem als Widerlegung der Willensfreiheit darstellten, obwohl Benjamin Libet selbst nie diese Schlussfolgerung aus seinen Experimenten gezogen hatte. Vielmehr hatten er und seine Kollegen bereits in den 1980er Jahren dargelegt, dass das Bereitschaftspotential im Gehirn nicht die alleinige Ursache für die Bewegung der Versuchsperson sein kann, sondern dass es einen weiteren Prozess geben muss, der die initiierte Bewegung zur Ausführung bringt, sei es bewusst oder unbewusst. Inzwischen hat sich die Neurowissenschaft der Volition als eigener Forschungszweig etabliert, auch wenn es noch viele offene Fragen gibt, da z.B. mehr als zwei Dutzend Hirnregionen an Willensentscheidungen beteiligt sind, so dass man sich z.B. Absichten eher als zeitlich ausgedehnte Prozesse vorstellen muss und nicht, wie in vielen Experimenten üblich, als punktuelle Ereignisse. Außerdem sollten realistischere Szenarien untersucht werden, die näher am menschlichen Alltag liegen. Schließlich ist nicht die Neurowissenschaft die zentrale Wissenschaft vom Menschen, sondern die Psychologie, wobei das alte Leib-Seele- oder Reduktionismusproblem vor allem auf einem begrifflichen Missverständnis beruht, denn menschliche Fähigkeiten äußern sich immer unmittelbar im Verhalten in einer bestimmten Umwelt, wobei diese Fähigkeiten natürlich verkörpert und damit auch im Nervensystem verankert sind. Das Problem besteht also nicht darin, den Geist auf körperliche bzw. Gehirnprozesse zu reduzieren, sondern zu verstehen, wie der lebendige Körper zum Geist werden kann, d.h. Erleben, Subjektivität und alle anderen psychischen Prozesse hervorbringen kann. Dabei müssen auch oft unkritisch verwendete Begriffe wie der Wille hinterfragt und durch praktisch plausiblere Alternativen ersetzt werden, d.h. auch die Neurowissenschaften können keine objektive Fundierung der Psychologie liefern und können dies prinzipiell auch nicht. Der Reduktionismus in der Wissenschaft lebt von der Idee, dass wissenschaftliche Erklärungen so einfach wie möglich sein sollen, aber nicht zu einfach sein dürfen, indem sie wesentliche Aspekte der Welt ausklammern, z.B. die Lebenswelt, die Subjektivität und den ständigen Austausch mit der Umwelt einschließlich der anderen Lebewesen in ihr. Damit sollte deutlich geworden sein, dass eine Wissenschaft vom Menschen notwendigerweise eine Systemwissenschaft sein muss, so dass im Hirnscanner immer nur ein Teil der Antwort gefunden werden kann.

Literatur

Libet, B. (2004). Mind Time: The temporal factor in consciousness. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Schleim, S. (2021). Gehirn, Psyche und Gesellschaft: Schlaglichter aus den Wissenschaften vom Menschen. Berlin: Springer.
Schleim, S. (2023). Mental Health and Enhancement: Substance use and its social implications. Cham: Palgrave Macmillan.
https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/die-wissenschaft-vom-freien-willen-wie-psychologie-hirnforschung-und-gesellschaftliche-praxis-zusammenpassen/ (23-12-18)


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