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Die Geschwisterposition wird überschätzt

Obwohl Kinder bei denselben Eltern aufgewachsen sind, sind sie in vielen Fällen sehr verschieden. Das liegt daran, dass sie zwar bei denselben Eltern aufwachsen, aber Eltern behandeln ihre Kinder nie genau gleich. Ein Kind kommt auf die Welt und Eltern bekommen sofort Gefühle, d. h., das Kind ist sympathisch, weil es vielleicht an den eigenen Bruder erinnert oder es gleicht einem selber oder hat ein anderes Geschlecht als erwartet. Eltern sind also nicht neutrale Personen, sondern sie erleben etwas, sie projizieren auch Erwartungen und Gefühle in dieses Kind, und das spüren natürlich die Kinder auch.

Ein Kind, das etwa als erstes auf die Welt kommt, entwickelt ja eine Rolle in der Familie, das zweite Kind hat dann schon eine andere Situation, denn es ist schon jemand da, es muss sich also eine andere Rolle suchen. Die Eltern reagieren auch nicht genau gleich, denn sie sind vielleicht, wenn das nächste Kind kommt, auch nicht mehr in der selben Lebensphase, d. h., sie überlegen sich vielleicht, sich zu trennen, oder sie haben sich jetzt beruflich gefunden. Auch hier gibt es etliche Faktoren, die permanent auf das Erleben der Geschwister einwirken und sie unterschiedlich prägen.

Es gibt zahlreiche Vorurteile gegenüber Erstgeborenen, Sandwichkindern oder das Nesthäkchen, die nicht generell zutreffen müssen. Zwar übernehmen die Älteren häufiger die Rolle des Verantwortlichen, allein weil sie einige Jahre älter sind. Die Geschwisterposition stellt aber nur einen Faktor dar und hat nicht dieses Gewicht, dass hierdurch ganz generell bestimmte Verhaltensweisen nahegelegt werden könnten. Es kommt vielmehr auf die Situation an, denn wenn Eltern etwa das ältere Kind wirklich in diese Rolle des Verantwortlichen und Vernünftigen stoßen, dann ist die Frage, ob das ältere Kind diese Rolle auch annimmt, ob es sich dagegen wehrt oder ob das zweite Kind dann eher in diese Rolle hineinkommt.

Daneben spielt etwa auch das Geschlecht eines Kindes eine Rolle und wie dieses Geschlecht von den Eltern beurteilt wird. Die Geschwisterposition hat bei weitem nicht mehr diese Bedeutung, die man ihr früher zugeschrieben hat, vielmehr hängt vieles davon ab, wie das Verhältnis innerhalb der Familie ist, etwa ob man fürsorglich miteinander umgeht oder ob es klar definierte Hierarchien gibt.

Dudek et al. (2022) haben jüngst untersucht, ob das Aufwachsen mit einer Schwester statt mit einem Bruder die Persönlichkeit beeinflusst, und haben eine umfassende Analyse der Auswirkungen des Geschlechts der Geschwister auf die Persönlichkeit Erwachsener vorgenommen, wobei Daten von über fünfundachtzigtausend Menschen aus zwölf großen repräsentativen Erhebungen in neun Ländern (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Niederlande, Deutschland, Schweiz, Australien, Mexiko, China und Indonesien) analysiert wurden. Sie untersuchten dabei die Persönlichkeitseigenschaften Risikotoleranz, Vertrauen, Geduld, Kontrollüberzeugung und die Big Five, und fanden keine bedeutsamen kausalen Auswirkungen des Geschlechts des nächstjüngeren Geschwisters und keine Zusammenhänge mit dem Geschlecht des nächstälteren Geschwisters. Diese über alle Länder konsistenten Ergebnisse in der Gesamtstichprobe und den relevanten Teilstichproben deuten darauf hin, dass das Geschlecht der Geschwister die Persönlichkeit nicht systematisch beeinflusst.

Literatur

Dudek, Thomas, Brenøe, Anne Ardila, Feld, Jan & Rohrer, Julia M. (2022). No Evidence That Siblings’ Gender Affects Personality Across Nine Countries. Psychological Science, doi:10.1177/09567976221094630.


Zusammengefasst nach einem Interview von Ute Teubner mit dem Psychologen Jürg Frick, der das Buch „Ich mag dich – du nervst mich: Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben“ verfasst hat.


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