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Katholische Kirche und Sexualität

Enthaltsamkeit rächt sich immer. Bei dem einen erzeugt sie Pusteln, beim andern Sexualgesetze.
Karl Kraus

Der Zölibat als mentale Kastration kann nicht funktionieren.
W. S.

Nach Aussagen von Reinhard Haller können nicht einmal zehn Prozent der katholischen Priesteranwärter ein zölibatäres Leben durchhalten, denn wenn Sexualität unterdrückt werde, führt dies zu „Notlösungen, denn die Sexualität ist eine enorme Macht.

„Wir müssen davon ausgehen, dass sie diejenige Kraft ist, die die Menschheit zusammen mit der Aggressivität voranbringt, und jeder Mensch ist dem, wenn man so will, ausgesetzt oder er kann es im positiven Sinne nutzen. Wenn nun das unterdrückt wird, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder entsteht in Art eines Dampfkessels ein pathologischer Grund, aus dem heraus dann alles Mögliche entsteht mit sexuellen Übergriffen, mit sexuellen Notlösungen, oder es könnte auch gelingen, im positiven Fall, dass man diese Kraft der Sexualität positiv verwandelt, also in sportliche Leistung, in künstlerischen Wettkampf und so weiter umwandelt, was aber, glaube ich, nur den wenigsten Menschen tatsächlich möglich sein wird. (…) Das Hauptproblem besteht meines Erachtens darin, dass die Menschen insbesondere in der katholischen Kirche darauf nicht vorbereitet werden. Sie werden gleichsam mit diesem Gebot konfrontiert, sollten danach leben, sind aber darauf überhaupt nicht vorbereitet, gerüstet, haben nichts mitbekommen, womit sie lernen könnten damit einigermaßen konstruktiv umzugehen. In anderen Religionen wird das etwas anders gehandhabt: Im Buddhismus zum Beispiel versucht man tatsächlich durch jahrelange Übungen, die Mönche darauf vorzubereiten, dass sie in sich das ganze Triebhafte tragen, dass demgegenüber auch das Durchgeistigte, das Transzendentale steht, und wie man diese beiden Kräfte sozusagen gegeneinander nicht ausspielt, sondern miteinander vereinen kann. Und das fehlt in der katholischen Kirche vollkommen, wie überhaupt in der ganzen Ausbildung Sexualpsychologie keine Rolle spielt. (…) Das Sündig-Sein spielt a priori in der katholischen Lehre eine ganz große Rolle und belastet, neurotisiert und traumatisiert in manchen Fällen auch die Menschen natürlich. Ich möchte aber ausdrücklich sagen, Zölibat an sich führt natürlich nicht zur Pädophilie, Pädophilie hat eine ganze Reihe von anderen Gründen. Aber Zölibat bedingt, dass die Menschen zu Notlösungen greifen und natürlich sind dann, wenn ich das so lieblos sagen darf, manchmal keine anderen, reifen, adäquaten, freiwilligen „Sexualobjekte“, unter Anführungszeichen, vorhanden und dann wird die ganze Macht der Sexualität eben auf hilflose Opfer, auf die Kinder umgeleitet und auf Kosten derer ausgelebt. (…) Es geht zunächst einmal darum, dass die Kirche ihre ablehnende Haltung gegenüber allen Kenntnissen der Psychotherapie, der Psychologie, der Psychoanalyse und so weiter revidiert, dass sie das nicht als Konkurrenz oder als etwas Feindliches erlebt, sondern als ein Hilfsmittel, das auch für die Seelsorge in ihrer gesamten Dimension von größter Wichtigkeit ist. Es ist des weiteren meines Erachtens erforderlich, dass man diese Menschen mit Methoden der Gruppenpsychologie, der Schulung über Verhaltenstherapie und so weiter auf diese, auf das Zölibat vorbereitet, und nur dann hat man wahrscheinlich auch eine Chance, das in einer solchen Form den Menschen vermitteln zu können, dass sie nicht auf Kosten anderer diese Lebensweise führen“.

Der Psychotherapeut Florian Friedrich schreibt unter dem Titel „Homosexualität und trans*Identität in den Kirchen“, dass sich generell Religionen, Kirchen und Freikirchen schwer tun mit Homosexualität, Bisexualität und Trans*Identitäten, aber auch mit Sexualität im Allgemeinen:

„Viele Menschen, die schwul, lesbisch, bisexuell oder trans* (transgender, transident, transsexuell, genderfluid, non binary, divers) sind, sind religiös und gläubig und suchen Heimat und Unterstützung in den Kirchen, den Religionsgemeinschaften, den christlichen Freikirchen oder den drei großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Eine Religionsgemeinschaft oder Kirche kann Halt und Sicherheit geben. Viele LGBT (lesbische Frauen, schwule Männer, bisexuelle Menschen und trans*Personen) hoffen, einen authentischen und menschenwürdigen Umgang in einer Glaubensgemeinschaft oder Kirche zu finden. Doch oft ist das Gegenteil der Fall: LGBTIQA* (Menschen, die schwul, lesbisch, bisexuell, trans*ident, intergeschlechtlich, queer oder asexuell sind) müssen erleben, dass sie gerade in den Kirchen menschenfeindlich, trans*phob und homophob behandelt werden und schweren Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dabei handelt es sich um psychische Gewalt.“

Siehe dazu auch Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche.

Die Angst der Kirche vor Sexualität

Die Angst der Kirche in puncto Sexualität betrifft laut dem Psychoanalytiker Josef-Christian Aigner vorrangig das Triebhafte, Fremdes und Frauen, wobei die Angst vor dem Triebhaften vor allem mit der Angst vor Kontrollverlust zu tun hat. Es sollte daher eine Kultivierung der Triebe stattfinden, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, ohne Angst vor den Trieben zu machen. Geschieht dies zu ängstlich oder zwanghaft, werden sich Triebe in anderer Form äußern, denn es ist kein Zufall, dass so viele zölibatäre Männer und Frauen Missbrauchstäter werden, da d wenigsten sich klar sind, wasihnen da bevorsteht. Lesben, Schwule, Transsexuelle und andere waren immer da, wurden aber unsichtbar gehalten, wobei die aktuelle Genderangst damit stark verbunden ist, denn diese hat ihren Grund auch in einer gewissen Maßlosigkeit der Lobbygruppen. Den Grund für kirchliche Ressentiments gegenüber dem Thema „Gender“ besteht in einer Art Verführungsgefahr, die von LGBTQIA+-Personen ausgeht. Die kirchliche Angst vor der Frau liegt darin begründet, dass Frauen seit jeher als Gefahr und Verführung galten, wo noch eine Angst vor dem gebärfähigen Unterleib der Frau hinzukommt, die Sigmund Freud Gebärneid nannte. Die Folge ist war eine rechtliche Unterwerfung der Frau, wonach Frauen nach der sexuellen Befreiung in den 1960er-Jahren einer sexuellen Marktwirtschaft sowie einem sexualisierten Leistungsdenken ausgesetzt sind. Die Ästhetisierung von Äußerlichkeiten zeigt sich etwa an Phänomenen wie der Intimkorrektur oder einer extremen Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper.

Schuldgefühle und Sexualität

Sexualität scheint per se eine heikle Sache zu sein und grundsätzlich mit einer archaischen Befleckungsangst verbunden. Die Vorstellung, dass es da etwas Reines und Unreines gebe im Zusammenhang mit dem Sex, oder ein Zuviel und Zuwenig, ist jedenfalls recht alt; und das Lob der Keuschheit ist keine Erfindung des Christentums. Das antike Griechenland verschrieb sich dem Motiv der Mäßigung. Hier ist noch keine Sünde im Spiel, oder Schuld, aber bisweilen eine Verachtung des Körperlichen. Im frühen Christentum verbanden sich diese antiken Motive mit einem gnostisch-dualistischen Weltbild des Kampfes Gut gegen Böse und der Vorstellung vom sündigen Menschen. In Endzeiterwartung verdammte der Apostel Paulus zwar nur die Unzucht, nicht die Ehe. Aber besser als die Ehe sei eben die Keuschheit, meinte er. Ein paar hundert Jahre später verstärkte der Kirchenvater Augustinus dieses Motiv zum typisch christlichen Muster sündiger Geschlechtlichkeit. Eine berühmte Stelle der Confessiones erzählt, dass ihm die Umkehr zum geistlichen Leben mit einem Paulus-Zitat gelang: „Ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor fleischlichen Gelüsten.“ Und auch sonst deutet Augustinus Keuschheit als den Willen Gottes: „Du befiehlst uns Enthaltsamkeit.“ Vermutlich erscheint Sex auch deshalb als „sündig“ (also ungehorsam gegen Gott), weil weltliche Lust dazu verleitet, den christlichen Gott, der ja ein Liebender ist, zu vergessen: „Denn zu wenig liebt dich, wer neben dir noch ein anderes liebt, das er nicht um deinetwillen liebt.“

Unbestreitbar haben Paulus und Augustinus der Sexualauffassung abendländischer Tradition einen gewissen negativen Twist gegeben und eine Entwicklung eingeleitet, in deren Verlauf Sexualität auch zum intimen Gegenstand der Gewissensprüfung, also des „Schuldregisters“, wurde, bis hin zur Verdammung „sündiger Gedanken“. Als befleckend gilt der Sexualakt in christlicher Tradition auch, weil er qua Fortpflanzung die Erbsünde weiterträgt. Wie lautet die alte Umschreibung fürs erste Mal: „die Unschuld verlieren“. Was für ein Wort: „Un-Schuld“. Als gebe es kein Gegenteil der Schuld, sondern nur ihre Negation.

Bedrückender als das Schuldgefühl, um das man weiß, ist aber dasjenige, das verborgen bleibt. Gefährlicher als die Schuld, die man spürt, ist die, die man vermeintlich nicht hat. Was die Verknüpfung von Schuld und Sex angeht, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse das Erbe der Kirche angetreten – niemand behauptet den Zusammenhang so stark wie sie. Freud sieht den ödipalen Inzestwunsch und die Angst vor seiner Bestrafung – also den „Kastrationskomplex“ – am Ursprung des Schuldgefühls, das, selbst verdrängt, sich als Neurose und Symptom dann seinen Weg nach außen bahnt. Interessanterweise entsteht dieser Theorie zufolge das Schuldgefühl gerade nicht aus der gelebten Sexualität, sondern aus der ungelebten: aus einer Triebhemmung. Die Macht des Über-Ich nährt sich, so die Vermutung, auch aus der verdrängten kindlichen Wut auf das Gesetz, das heißt, der Treibstoff für die sadistische Gewissensangst kommt nicht unbedingt von außen. Jedenfalls hat die frühe Psychoanalyse so eine Erklärung für das Paradox, dass ein schlechtes Gewissen oft umso größer ist, je weniger real passiert. Schuldgefühle entstehen demnach vor dem Sex, nicht nachher (Roedig, 2016).

Michel Foucault hat in seinem Buch Sexualität und Wahrheit diese Paradoxie sehr schön beschrieben: Durch die Diskursivierung der Sexualität, also dadurch, dass man rund um die Sexualität Gebote und Verbote errichtet und damit dauernd über sie redet, macht man sie überhaupt erst zum wichtigen Thema. Es stimmt also nicht die simple Beschreibung, dass Sexualität früher unterdrückt wurde und man sich daher von dieser Unterdrückung befreien muss, sondern dass man paradoxerweise erst über das massive Aussprechen von Verboten und das Schaffen von Konflikten die Sexualität erst ins Gespräch bringt und ihr Bedeutung und Raum gibt. Die katholische Kirche mit ihren vielen Enthaltsamkeitsforderungen ist ein schönes Beispiel dafür, denn für diese Kirche gibt es wahrscheinlich auf der Welt nichts anderes als Sexualität – und die ist nur im Rahmen ihrer ziemlich willkürlichen Gebote und Verbote erlaubt.

Zieht die Kirche Homosexuelle und Päderasten an?

Dazu aus einem Interview von cath.ch mit Philip Jaffé, Professor für Psychologie an der Universität Genf: Zwischen 9 und 40 Prozent der pädophilen Täter haben laut Studien eine homosexuelle Orientierung, die übrigen sind somit heterosexuell. Von denjenigen, die ein Kind missbraucht haben, sind 50 Prozent nicht pädophil, sondern es sind Menschen, deren sexuelle Orientierung unklar und unreif ist. Diese werden in einem bestimmten Kontext übergriffig, etwa, wenn sie mit einem Kind alleine sind. Studien zeigen, dass die Mehrheit der missbrauchten Kinder Mädchen sind, doch innerhalb der Kirche ist jedoch das Gegenteil der Fall: Die Mehrheit der Opfer sind Knaben. Das liegt vermutlich daran, dass die Welt der Priester eine Männerwelt, was zweifellos manche Homosexuellen anzieht, jedoch wird die Frau im katholischen Denken häufig als Objekt der Sünde dargestellt, sodass in gewisser Weise Knaben oder Männer in dieser Beziehung weniger bedrohlich sind. Darüber hinaus wird in kirchlichen Seminaren der Schwerpunkt auf den intellektuellen Aspekt gelegt, zum Nachteil des Körpers und seiner Anziehungskraft.

Vito von Eichborn schreibt am 22. September 2018 zur Thematik des Missbrauchs in der katholischen Kirche unter dem Titel „Ein Bestseller über den Missbrauchsskandal“, dass er einen „Autor für einen sicheren Bestseller. Arbeitstitel: »Der Zölibat züchtet Verbrecher«. Untertitel: Der Irrsinn vom Verhältnis der katholischen Kirche zur Sexualität seit Jahrtausenden – und die Untersuchung, ob der Zölibat verboten werden kann.“
Er nimmt Bezug auf die in letzter Zeit gehäuft aufgedeckten Missbrauchsfälle und kommt zu dem Schluss: „Überall, wo es die katholische Kirche gibt, haben ihre Angestellten sich an Kindern und Jugendlichen »vergangen« – denn im katholischen Codex ist das ein Vergehen, kein Verbrechen.“ Und weiter: „Und die Aufzählung dieser weltweiten Ungeheuerlichkeiten führt nicht zum Aufschrei? Der Zölibat, so zeigen es Untersuchungen, wird zum Fluchtort für Männer, die mit ihrer Sexualität nicht klarkommen, für katholische Priester, die vereinsamt, alkoholabhängig, unreif und labil sind. Die Kirche züchtet folglich psychisch gestörte unfassbare Straftaten. Das alles ist doch nicht zu fassen!“ Mit Bezug auf die aktuelle Situation der katholischen Kirche registriert er die neurotische Entwicklung bis heute: „Über die seelischen Erschütterungen der Kirchenmänner, die durch die Zwänge der Kirche gequält und kaputt gemacht werden? Darüber, was das bei den hunderttausenden Kindern und in der Gesellschaft anrichtet? Und über die Konsequenzen für unseren Rechtsstaat?“

Literatur

Katrin Heise im Gespräch mit Reinhard Haller.
WWW: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1148226/ (10-03-23)
Roedig, A. (2016). Alles gut bis auf die Syphilis. Der Standard vom 10. September 2016.
https://www.literaturcafe.de/buechermachen-xvi-ein-bestseller-ueber-den-missbrauchsskandal/ (18-09-26)
https://www.meinbezirk.at/salzburg/c-regionauten-community/sex-und-sexualitaet-in-den-kirchen_a5894068 (23-03-01)
https://www.kathpress.at/goto/meldung/2291758/kav-tagung-kirche-hat-zu-viel-angst-beim-thema-sexualitaet (23-08-17)

 


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