Zum Inhalt springen

Zelluläre und molekulare Mechanismen zur Steuerung der lernsensiblen Phasen

Die postnatale Entwicklung des Gehirns ist nach der Geburt durch zeitlich begrenzte, funktionsspezifische Fenster hoher Plastizität gekennzeichnet, die man als kritische oder sensible Phasen bezeichnet. Diese lernsensiblen Phasen treten auf, indem bestimmte Bereiche des Gehirns durch Reifungs- und Differenzierung-Prozesse weiter ausgebaut werden und somit leicht und schnell neuronale Verknüpfungen entstehen, die die Plastizität des Gehirns erhöhen. So ist der natürliche Spracherwerb bei Säuglingen das bekannteste Beispiel für solch eine sensible Phase. Die neuronale Plastizität gibt dem Gehirn die Möglichkeit, sich das ganze Leben lang an neue Anforderungen anzupassen, ist jedoch im erwachsenen Gehirn oft eingeschränkt, so dass Lernprozesse mühsamer ablaufen.

Napoli et al. (2020) haben versucht, die zellulären und molekularen Mechanismen zu identifizieren, die diese sensiblen Phasen öffnen und wieder schließen und im Zusammenhang mit dem Altern stehen, und zwar am Beispiel der Plastizität des visuellen Cortex bei Mäusen. Visuell-cortikale Schaltkreise, die zum visuellen System zählen und das Sehen ermöglichen, weisen während des frühen Lebens eine starke Plastizität auf und werden später durch molekulare Bremsen stabilisiert, die eine übermäßige Anpassung von Verknüpfungen über einen kritischen Zeitraum hinaus begrenzen. Um Faktoren zu identifizieren, die die postnatale Entwicklung des visuellen Cortex regulieren, wurden miRNA/RNA-Datensätze vom sich entwickelnden visuellen Cortex von Mäusen analysiert und zu unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander verglichen. Es gelang der Nachweis der microRNA-Familie miR-29 als einen altersabhängigen Regulator der Entwicklungsplastizität im visuellen Cortex zu identifizieren, denn mit einem 30-fachen Anstieg war miR-29a die am stärksten hochregulierte miRNA während der sensiblen Phase. Darüber hinaus wurden mehr als die Hälfte der von miR-29-regulierten Ziele mit dem Alter herunterreguliert, einschließlich der Schlüsselregulatoren der Gehirnplastizität, was ein Hinweis darauf ist, dass miR-29a ein wichtiger Regulator nachgeschalteter Entwicklungsprozesse im Gehirn ist. Weitere Untersuchungen zeigten, dass ein vorzeitiger Anstieg der miR-29a-Konzentrationen in jungen Mäusen die jugendliche Augendominanz-Plastizität blockierte und ein frühes Auftreten perineuronaler Netze verursachte, also spezialisierter Strukturen im zentralen Nervensystem, die für die synaptische Stabilisierung im erwachsenen Gehirn verantwortlich sind. Im sich entwickelnden sowie erwachsenen Gehirn spielen sie als Plastizitätsbremse eine entscheidende Rolle und halten bestehende Verbindungen zwischen Nervenzellen aufrecht. Die Blockierung von miR-29a in adulten Tieren kehrte dann die entwicklungsbedingte Herunterregulierung der miR-29a-Ziele um und induzierte eine Form der das Auge betreffenden Plastizität.

Literatur

Napoli, Debora, Lupori, Leonardo, Mazziotti, Raffaele, Sagona, Giulia, Bagnoli, Sara, Samad, Muntaha, Sacramento, Erika Kelmer, Kirkpartick, Joanna, Putignano, Elena, Chen, Siwei, Terzibasi Tozzini, Eva, Tognini, Paola, Baldi, Pierre, Kwok, Jessica C. F., Cellerino, Alessandro & Pizzorusso, Tommaso (2020). MiR-29 coordinates age-dependent plasticity brakes in the adult visual cortex. EMBO reports, doi: 10.15252/embr.202050431.
https://wissen.newzs.de/2020/10/09/ re-modellierer-der-gehirnplastizitaet-im-alter-entdeckt/ (20-10-10)


Nachricht ::: Stangls Bemerkungen ::: Stangls Notizen ::: Impressum
Datenschutzerklärung ::: © Werner Stangl :::