Menschen sind zutiefst erzählende Wesen – eine Spezies, die Sinn und Bedeutung durch Geschichten erschafft. Der Wissenschaftspublizist Jonathan Gottschall bezeichnet den Menschen als „storytelling animal“, und die Psychologin Elaine Reese (2024) bestätigt, dass in allen bekannten Kulturen Erzählungen ein zentrales Element des sozialen Lebens sind. Ob in Romanen, Filmen oder mündlichen Berichten – Geschichten faszinieren uns, weil sie unsere Vorstellungskraft anregen, Empathie fördern und unser Denken strukturieren.
Neurowissenschaftliche Studien, etwa von Ulrike Altmann, zeigen, dass beim Lesen von Geschichten das sogenannte default network im Gehirn aktiv wird – ein Areal, das mit Tagträumen, Erinnerungen und mentalen Simulationen verknüpft ist. Diese Aktivierung unterscheidet sich deutlich von der kognitiven Reaktion auf Sachtexte. In der Erzählung verlieren wir uns nicht, sondern tauchen in eine alternative Realität ein, die unser Bewusstsein erweitert. Der Kognitionsforscher Fritz Breithaupt (2022) beschreibt diesen Zustand der Immersion als eine „vieldimensionale virtuelle Welt ohne Spezialbrille“. Lesen und Erzählen wirken somit als mentale Gymnastik. Literarische Texte erfordern die Fähigkeit, komplexe Handlungsstrukturen nachzuvollziehen, Hypothesen über zukünftige Ereignisse zu bilden und alternative Szenarien durchzuspielen – Prozesse, die das Gehirn trainieren und die kognitive Flexibilität erhöhen. Reese (2024) spricht von „mentaler Gymnastik“, die das Bewusstsein in Bewegung hält. Dazu gehört auch das kontrafaktische Denken: Wir stellen uns vor, wie Ereignisse anders hätten verlaufen können, was unser Denken offener und kreativer macht.
Darüber hinaus dienen Geschichten als Schule der Empathie. Studien von Raymond Mar und Keith Oatley (2006) zeigen, dass literarisch gebildete Menschen über eine ausgeprägtere Theory of Mind verfügen – also die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle anderer hineinzuversetzen. In einem späteren Experiment (2013) schnitten Teilnehmende, die literarische Texte gelesen hatten, in Empathietests besser ab als jene, die Sachtexte oder Abenteuerliteratur lasen. Damit belegen solche Befunde, dass fiktionale Welten reale soziale Kompetenzen fördern.
Geschichten vermitteln aber nicht nur Emotionen, sondern auch Wissen. Viele Romane oder Filme enthalten sorgfältig recherchierte historische oder kulturelle Hintergründe, wodurch sie beiläufig Bildung vermitteln. Allerdings verschwimmen dabei oft die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion – ein Risiko, das Reese (2024) betont: Leserinnen und Leser behalten erfundene Details manchmal als wahr im Gedächtnis. Trotzdem überwiegt der Erkenntnisgewinn, da Geschichten Lernprozesse emotional verankern und so nachhaltiger wirken als reine Informationsaufnahme.
Schließlich stiften Erzählungen auch soziale Bindung. Das gemeinsame Erzählen, Vorlesen oder Diskutieren von Geschichten erzeugt emotionale Synchronisation: Erzählende und Zuhörende erleben ähnliche Emotionen und bilden eine Art „narratives Resonanzfeld“ (Breithaupt, 2022). Schon frühkindliche Erfahrungen – etwa das Vorlesen durch Bezugspersonen – verknüpfen Erzählungen mit Geborgenheit und Vertrauen (Reese, 2024). In dieser kollektiven Dimension werden Geschichten zu „Miterfahrungsangeboten“, die zwischenmenschliche Nähe schaffen und kulturelle Identität festigen.
Insgesamt zeigen die Erkenntnisse aus Psychologie, Literatur- und Neurowissenschaft, dass Geschichten nicht bloß Unterhaltung sind. Sie sind kognitive Werkzeuge, emotionale Trainingsfelder und soziale Brücken. Erzählen heißt, sich selbst und andere besser zu verstehen – ein Prozess, durch den der Mensch sich in der Welt verankert und zugleich über sie hinausdenkt. Wie Breithaupt (2022) formuliert: Wir leben, wie wir leben, weil wir den Belohnungsmustern des Erzählens folgen – und weil jede Geschichte die Möglichkeit in sich trägt, dass alles auch anders kommen kann.
Literatur
Breithaupt, F. (2022). Das narrative Gehirn: Was unsere Neuronen erzählen. Suhrkamp.
Gottschall, J. (2012). The storytelling animal: How stories make us human. Houghton Mifflin Harcourt.
Mar, R. A., & Oatley, K. (2006). The function of fiction is the abstraction and simulation of social experience. Perspectives on Psychological Science, 3(3), 173–192.
Reese, E. (2024). How stories change us: A developmental science of stories from fiction and real life. Oxford University Press.
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