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Wie der Tageszeitpunkt akademische Leistungen und Beurteilungen beeinflusst

    Die Uhrzeit, zu der eine Prüfung abgelegt wird, ist mehr als nur eine organisatorische Randbedingung – sie kann den Unterschied zwischen Bestehen und Scheitern ausmachen. Eine großangelegte Untersuchung von Vicario et al. (2025) zeigte, dass die Tageszeit einen signifikanten Einfluss auf die Erfolgswahrscheinlichkeit bei mündlichen Prüfungen hat. Die Ergebnisse deuten auf ein komplexes Zusammenspiel innerer Rhythmen sowohl der Studierenden als auch der Prüfenden hin, das über Leistung und Bewertung entscheidet. Grundlage der Analyse waren 104.552 mündliche Prüfungen, die zwischen Oktober 2018 und Februar 2020 an der Universität Messina stattfanden – ein Zeitraum, der bewusst vor der COVID-19-Pandemie gewählt wurde, um ausschließlich Präsenzprüfungen zu betrachten. Die Daten zeichnen ein deutliches Bild: Während in den frühen Morgenstunden (8–10 Uhr) und am späten Nachmittag (15–17 Uhr) nur rund 53 Prozent der Studierenden bestanden, lag die Erfolgsquote zur Mittagszeit bei über 70 Prozent. Diese Verteilung folgt einer nahezu idealen Glockenkurve – einer sogenannten Gauß’schen Verteilung – und spricht für ein systematisches Muster im Tagesverlauf.

    Als Erklärung rücken die circadianen Rhythmen in den Fokus – die inneren Uhren der Menschen, die unter anderem Schlaf-Wach-Zyklen, Aufmerksamkeit und kognitive Leistungsfähigkeit steuern. Studierende, überwiegend im jungen Erwachsenenalter, neigen häufig zu einem sogenannten „Nachteulen“-Chronotyp: Ihre kognitive Höchstform erreichen sie erst später am Tag. Anders hingegen die Prüferinnen und Prüfer, meist zwischen 40 und 60 Jahre alt, deren Biorhythmus auf frühere Tageszeiten ausgerichtet ist. Diese Diskrepanz führt zu einem paradoxen Effekt: Während die Studierenden zu Mittag am leistungsfähigsten sind, könnten die Prüfenden infolge von Ermüdung nachsichtiger urteilen. Die Kombination beider Rhythmen zur Mittagszeit könnte somit optimale Bedingungen für Prüfungserfolg schaffen.

    Dieses Ergebnis reiht sich ein in frühere Studien zur Bedeutung des Zeitpunkts bei Entscheidungsprozessen. So zeigten Danziger et al. (2011), dass Richter Bewährungsanträge tendenziell zu Beginn des Tages oder nach einer Essenspause eher bewilligen als zu anderen Zeiten. Die italienische Studie baut auf dieser Erkenntnis auf, geht aber methodisch darüber hinaus: Die Zufälligkeit der Prüfungsreihenfolge an der Universität Messina erlaubt robustere Aussagen über den Einfluss der Tageszeit auf Leistungsbeurteilungen und minimiert potenzielle Verzerrungen durch systematische Abläufe oder Falltypen.

    Die Implikationen dieser Befunde sind weitreichend: Wenn Entscheidungsprozesse so stark von der Tageszeit beeinflusst werden, ist es geboten, Prüfungen strategisch zu planen – im Sinne fairer Chancen und objektiver Beurteilungen. Es empfiehlt sich daher, zentrale Leistungsüberprüfungen vorzugsweise vom späten Vormittag bis in den frühen Nachmittag zu legen. Damit könnten nicht nur die Leistungen der Studierenden realistischer abgebildet, sondern auch unbewusste Verzerrungen im Bewertungsverhalten reduziert werden. Daher sollte man auch die Auswirkungen der Tageszeit auch in anderen entscheidungsrelevanten Kontexten untersuchen, etwa bei Vorstellungsgesprächen. Wenn auch hier innere Rhythmen und kognitive Leistungskurven den Verlauf beeinflussen, stellt sich die Frage nach strukturellen Anpassungen im Bewerbungswesen. Die Forschung zur Chronobiologie – der Wissenschaft der biologischen Rhythmen – erhält damit eine neue, hochrelevante Dimension: Sie wird zum Schlüssel für Gerechtigkeit in Bildungs- und Auswahlprozessen.

    Literatur

    Danziger, S., Levav, J., & Avnaim-Pesso, L. (2011). Extraneous factors in judicial decisions. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(17), 6889–6892.
    Vicario, C. M., Avenanti, A., & Messina University Team. (2025). Timing matters! Academic assessment changes throughout the day. Frontiers in Psychology, 16, doi:10.3389/fpsyg.2025.1605041.


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