Häufig erleben wir Situationen, in denen wir uns fragen, ob das, was wir wahrnehmen, tatsächlich real ist oder lediglich aus unserer Vorstellung stammt. Ob es sich dabei um einen roten Luftballon handelt, den wir scheinbar an einem Baum vorbeischweben sehen, oder um ein vertrautes Gesicht im Menschengewimmel – unser Gehirn muss fortlaufend unterscheiden, was real ist und was wir uns nur vorstellen. Eine zentrale Erkenntnis aus aktuellen neurowissenschaftlichen Studien ist, dass reale Wahrnehmung und mentale Bilder in denselben Hirnregionen verarbeitet werden. Dennoch gelingt es einem gesunden Gehirn in der Regel zuverlässig, zwischen innerer Vorstellung und äußerer Realität zu unterscheiden. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte Mary Cheves West Perky dieses Phänomen, indem sie Teilnehmenden auftrug, sich Gegenstände vorzustellen, während sie diese gleichzeitig, kaum wahrnehmbar, projizieren ließ. Die Proband*innen erlebten die Kombination aus inneren Bildern und realen Reizen als besonders lebendig, hielten die Projektionen jedoch nicht für real. Dies deutet darauf hin, dass das Gehirn bereits damals zwischen selbstgenerierten und externen Sinneseindrücken differenzierte – auch wenn diese Grenze im Bewusstsein mitunter verschwimmen kann.
Diese frühe Erkenntnis griffen Dijkstra &. Fleming (2023) auf, wobei man bildgebende Verfahren und computergestützte Modellierungen nutzte, um die Mechanismen zu analysieren, mit denen das Gehirn Realität von Imagination trennt. Dabei zeigte sich, dass Vorstellungen und Wahrnehmungen keine klar voneinander abgegrenzten Prozesse sind. Vielmehr werden beide Arten von Signalen im Gehirn zusammengeführt, wobei entscheidend ist, ob diese kombinierten Signale stark genug sind, um eine sogenannte Realitätsschwelle zu überschreiten – erst dann hält man einen Eindruck für real.
In den Experimenten wurden Probandinnen und Probanden gebeten, sich visuelle Muster in einem rauschähnlichen Bild vorzustellen. Teilweise wurden diese Muster tatsächlich eingeblendet, teilweise nicht. Die Versuchspersonen mussten anschließend angeben, ob sie das Muster als real oder eingebildet erlebt hatten. Mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie konnte man zeigen, dass insbesondere der Gyrus fusiformis – eine Region der Großhirnrinde, die auch bei der Erkennung von Gesichtern, Farben und Schrift aktiv ist – bei dieser Entscheidung eine zentrale Rolle spielt. War die Aktivität dort besonders stark, überschritt das visuelle Signal die Realitätsschwelle, und die Versuchsperson war überzeugt, etwas Reales gesehen zu haben. Doch der Gyrus fusiformis agiert nicht isoliert, denn auch die anteriore Inselrinde, ein Bereich, der mit Selbstwahrnehmung, Entscheidungsfindung und Problemlösung assoziiert ist, zeigte erhöhte Aktivität, wenn die Testpersonen eine Wahrnehmung als real einstuften. Diese Region gehört zum präfrontalen Cortex, der allgemein mit Metakognition, also der Fähigkeit, über die eigenen mentalen Zustände nachzudenken, verbunden ist. Die Studie legt nahe, dass diese kognitiven Kontrollzentren auch an der Beurteilung beteiligt sind, ob eine Wahrnehmung real oder vorgestellt ist.
Diese Erkenntnisse werfen auch ein neues Licht auf psychische Erkrankungen wie Psychosen, bei denen Betroffene die Fähigkeit verlieren, zwischen Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Eine mögliche Erklärung wäre dann, dass entweder ihre mentalen Bilder außergewöhnlich stark sind oder dass ihre Realitätsschwelle verschoben ist.
Literatur
Dijkstra, N. & Fleming, S. M. (2023). Subjective signal strength distinguishes reality from imagination. Nature Communications, 14(1), 1627.
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