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Wie das Gehirn das Immunsystem auf potenzielle Infektionen vorbereitet

    Kann der Anblick eines kranken Menschen ausreichen, um das menschliche Immunsystem in Alarmbereitschaft zu versetzen? Trabanelli et al. (2025) untersuchten in einem Virtual-Reality-Experiment mit etwa 250 Probandinnen und Probanden die Auswirkungen des Anblicks krank wirkender Avatare, wobei diese Avatare sichtbare Symptome wie Hautausschläge oder Husten aufwiesen und sich innerhalb eines virtuellen Raums bewegten, der über VR-Brillen vermittelt wurde. Sobald sich ein kranker Avatar im sogenannten peripersonalen Raum, also in der unmittelbaren Nähe, der Versuchspersonen befand, stiegen sowohl die neuronale Aktivität als auch die physiologischen Immunparameter messbar an. Konkret zeigte sich eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Berührungen im Gesicht, sobald ein „kranker“ Avatar in die Nähe kam, was auf eine erhöhte sensorische Wachsamkeit hinweist. Gleichzeitig aktivierten sich im Gehirn jene Regionen, die für die Verarbeitung multisensorischer und räumlicher Informationen zuständig sind. EEG- und MRT-Aufnahmen belegten eine Aktivierung der sogenannten salience network, das dafür zuständig ist, relevante Reize im Umfeld zu erkennen und angemessene Reaktionen auszulösen.

    Noch bemerkenswerter aber waren die Ergebnisse der Blutanalysen, denn Probanden, die mit krank aussehenden Avataren konfrontiert wurden, zeigten eine erhöhte Anzahl und Aktivität bestimmter Immunzellen, insbesondere sogenannter innater lymphoider Zellen (ILC), wobei diese Zellen, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden, eine Schlüsselrolle in der schnellen, angeborenen Immunantwort spielen. Die Reaktion der Probanden ähnelte in ihrer Intensität sogar derjenigen nach einer Grippeimpfung, was die Relevanz der rein visuellen Reize unterstreicht.

    Diese proaktive Immunaktivierung basiert offenbar auf einem eng gekoppelten Zusammenspiel zwischen dem Gehirn und dem Immunsystem. Über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse – ein zentrales hormonelles Steuerungssystem, das auf Stressfaktoren reagiert – scheinen Informationen über potenzielle Infektionsgefahren in immunologische Prozesse übersetzt zu werden. Es handelt sich dabei vermutlich um eine Art Frühwarnsystem, das auf Basis von neuronalen Antizipationen die Immunabwehr bereits in Gang setzt, bevor überhaupt ein echter Kontakt mit einem Erreger erfolgt ist. Im evolutionären Kontext ergibt diese Reaktion Sinn, denn während Tiere auf Bedrohungen klassisch mit Kampf oder Flucht reagieren, müssen Mikrobenbedrohungen auf subtilere Weise erkannt und gemieden werden. Der Mensch hat hierzu komplexe Strategien entwickelt – etwa soziale Distanz – die besonders in Pandemien wie der COVID-19-Krise sichtbar wurden. Die neue Studie ergänzt dieses Verhaltensrepertoire um eine tiefere, physiologische Dimension: Auch in Abwesenheit echter Krankheit reicht bereits der Anschein aus, um das Immunsystem zu alarmieren.

    Die Erkenntnisse lassen sich im Rahmen des „Rauchmelder-Prinzips“ interpretieren, d. h., lieber ein Fehlalarm zu viel als einer zu wenig. Für das Überleben ist es günstiger, auch bei bloßem Verdacht auf Krankheit eine Immunreaktion einzuleiten, als einen gefährlichen Infekt zu übersehen. Die Tatsache, dass dieses Prinzip selbst in virtuellen Umgebungen greift – also bei eindeutig ungefährlichen Reizen wie animierten Avataren – zeigt, wie sensibel das menschliche Immunsystem auf krankheitsbezogene Reize reagiert. Die Studie weist somit auf eine bislang unterschätzte Verbindung zwischen neuronaler Antizipation und immunologischer Aktivierung hin.

    Literatur

    Trabanelli, S., Akselrod, M., Fellrath, J., Vanoni, G., Bertoni, T., Serino, S., Papadopoulou, G., Born, M., Girondini, M., Ercolano, G., Ellena, G., Cornu, A., Mastria, G., Gallart-Ayala, H., Ivanisevic, J., Grivaz, P., Paladino, M. P., Jandus, C., & Serino, A. (2025). Neural anticipation of virtual infection triggers an immune response. Nature Neuroscience, doi:10.1038/s41593-025-02008-y


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