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Warum Menschen die Größe von Minderheiten überschätzen

In vielen gesellschaftlichen Kontexten überschätzen Menschen häufig den Anteil von Minderheitengruppen an der Gesamtbevölkerung, wobei diese Fehleinschätzungen jedoch nicht nur auf spezifische politische oder soziale Phänomene zurückzuführen sind, sondern grundlegenden menschlichen Denkfehlern entspringen, die vor allem bei der Einschätzung von Proportionen auftreten. Eine Untersuchung von Guay et al. (2025) hat gezeigt, dass dieser Effekt auf allgemeinen psychologischen Prozessen beruht, die für alle Arten von Schätzungen gelten. Wenn Menschen gefragt werden, wie viele Mitglieder bestimmter Minderheiten in ihrem Land leben, überschätzen sie deren Anteil häufig deutlich. In den USA etwa geben Menschen oft doppelt so hohe Zahlen an, wenn sie den Anteil von Afroamerikanern, Latinos, Muslimen, Asiaten, Juden, Einwanderern oder der LGBTQ-Community schätzen. Diese Tendenz, Gruppen in ihrer Zahl falsch einzuschätzen, ist nicht auf die USA beschränkt, sondern auch in anderen Ländern zu beobachten, wo der Anteil von Ausländern ebenfalls regelmäßig zu hoch eingeschätzt wird. Auf der anderen Seite unterschätzen die meisten Menschen den Anteil der Mehrheit an der Gesamtbevölkerung.

Die Erklärung für diese Fehleinschätzungen, die von sozialen und politischen Wissenschaftlern vorgeschlagen wurde, ist komplex und umfasst mehrere Hypothesen. Eine davon besagt, dass Vorurteile und die Wahrnehmung von Bedrohung dazu führen, dass Minderheitengruppen als größer wahrgenommen werden, als sie tatsächlich sind. Eine andere Hypothese legt nahe, dass Menschen, die durch Medienberichte oder durch persönliche Kontakte häufig mit Angehörigen von Minderheitengruppen in Kontakt kommen, deren Anteil als höher einschätzen, was durch fehlerhafte Zahlen oder eine hohe Frequenz von Medienberichten verstärkt werden kann.

Guay et al. (2025) haben nun einen weiteren, tiefgehenderen Mechanismus aufgezeigt, der diese Fehleinschätzungen besser erklären kann. Dafür wertete man Daten aus, die in den letzten 30 Jahren aus über 36.000 Befragungen von Personen aus 22 Ländern gesammelt wurden. Dabei wurde die Schätzung von Gruppengrößen untersucht, sowohl in Bezug auf ethnische Minderheiten als auch auf nicht-ethnische Gruppen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Schätzwerte tendenziell immer zur Mitte hin verschoben sind, also näher an 50 Prozent, was als Schwellenwert zwischen Minderheiten und Mehrheiten dient. Wenn Menschen keine genaue Zahl kennen, neigen sie dazu, die Größe von Minderheitengruppen zu überschätzen und die Größe von Mehrheiten zu unterschätzen. Diese Verzerrung, die als „Regression zur Mitte“ bezeichnet wird, ist ein allgemeinpsychologisches Phänomen, das in der Schätzung von Proportionen zu beobachten ist, egal ob es um Minderheiten oder andere demografische Merkmale geht.

Das Muster dieser Fehleinschätzungen wurde in der Studie als allgemeiner Schätzfehler identifiziert, der weit über die sozialpsychologischen oder politischen Erklärungsansätze hinausgeht. Der Effekt tritt in allen Bereichen auf, in denen Menschen Schätzungen zu Proportionen abgeben müssen. Auch bei der Schätzung von nicht-politischen Themen wie der Häufigkeit von Buchstaben in Texten oder dem Besitz von Haushaltsgeräten, wie etwa Waschmaschinen, zeigt sich dieses Fehlerphänomen. Nur in wenigen Fällen konnte man eine Korrelation zwischen den Fehleinschätzungen und den wahrgenommenen Bedrohungen oder der Häufigkeit sozialer Kontakte zu Minderheitengruppen feststellen. Vielmehr zeigte sich, dass Menschen mit mehr Wissen und Informationen über eine Gruppe etwa durch direkte Erfahrungen oder Medienberichte ihre Schätzungen realistischer abgeben. Dennoch kann falsches Wissen, etwa durch Fehlinformationen oder Vorurteile, dazu führen, dass Menschen ihre Einschätzungen stärker verzerren.

Man sollte daher Fehleinschätzungen der demografischen Struktur nicht nur als Ergebnis politischer oder sozialer Vorurteile zu verstehen, sondern sie auch als eine Konsequenz allgemeiner psychologischer Prozesse zu betrachten, die Menschen Menschen dazu verleiten, Proportionen zur Mitte hin zu verzerren. Insofern zeigt die Studie, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit den psychologischen Mechanismen hinter diesen Schätzfehlern notwendig ist. Während Vorurteile gegen Minderheiten sicherlich existieren und die Fehleinschätzungen verstärken können, sind sie nicht die Hauptursache für die falschen Wahrnehmungen der Bevölkerungsstruktur. Diese Ergebnisse legen nahe, dass mehr Wissen über die tatsächlichen Größen von Minderheiten und Mehrheiten dazu beitragen könnte, diese Fehleinschätzungen zu verringern und die Verzerrung durch falsche Erwartungswerte zu reduzieren.

Literatur

Guay, B., Marghetis, T., Wong, C. & Landy, D. (2025). Quirks of cognition explain why we dramatically overestimate the size of minority groups. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:/10.1073/pnas.2413064122.


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