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Warum Menschen die ersten Lebensjahre vergessen

Die frühesten Lebensjahre erscheinen meist wie aus dem Gedächtnis gelöscht. Doch was sind die Gründe für diese sogenannte „kindliche Amnesie“ oder „infantile Amnesie“? Und wie können sich manche Kindheitserinnerungen trotzdem fest in unserem Gedächtnis verankern? Das Phänomen der kindlichen Amnesie, also das Fehlen von Erinnerungen an die frühe Kindheit, ist ein komplexes Thema, das Wissenschaftler seit langem beschäftigt. Eine der Strategien, um diese Lücken zu überbrücken, ist das Strukturieren der eigenen Erlebnisse in Form von Geschichten. Dieses narrative Vorgehen erleichtert nicht nur das Erinnern, sondern kann auch dazu beitragen, ein tieferes Verständnis der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu erlangen.

Visuelle Ankerpunkte wie Fotos oder Videos aus der Kindheit spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie dienen nicht nur als Gedächtnisstützen, sondern können sogar neue Erinnerungen erzeugen oder bestehende Erinnerungen verstärken. Neuere Studien legen nahe, dass frühe Erfahrungen, auch wenn sie nicht bewusst erinnert werden, einen nachhaltigen Einfluss auf die spätere Entwicklung und das Verhalten haben können. Dies deutet darauf hin, dass neben den expliziten Erinnerungen, die uns bewusst zugänglich sind, auch implizite Erinnerungen eine wichtige Rolle spielen. Interessanterweise kann der Zeitpunkt der ersten Erinnerungen kulturell variieren. In Kulturen, die einen hohen Wert auf persönliche Geschichten und Selbstreflexion legen, tendieren Menschen dazu, frühere erste Erinnerungen zu haben. Dies legt nahe, dass die kindliche Amnesie nicht nur durch biologische Faktoren, sondern auch durch sozio-kulturelle Einflüsse geprägt wird. Forschungen haben gezeigt, dass bleibende Kindheitserinnerungen oft durch eine Kombination aus emotionaler Bedeutung, Wiederholung und der Fähigkeit, Erlebnisse sprachlich zu kodieren und zu strukturieren, entstehen. Dieses Zusammenspiel von Faktoren beeinflusst die Entwicklung des Gehirns, der Sprache und der narrativen Fähigkeiten, die wiederum das Phänomen der kindlichen Amnesie prägen.

Die Ätiologie der kindlichen Amnesie ist multifaktoriell. Ein wesentlicher Faktor stellt die Entwicklung des Gehirns während der ersten Lebensjahre dar. Insbesondere der Hippocampus, dessen Funktion die Bildung von Langzeiterinnerungen ist, reift in dieser Zeit noch stark aus. Folglich sind die erforderlichen neuronalen Strukturen zum Zeitpunkt der frühen Erlebnisse häufig noch nicht vollständig ausgebildet. Des Weiteren ist die Sprachentwicklung von entscheidender Bedeutung. Die Annahme, dass die Fähigkeit, Erlebnisse sprachlich zu kodieren, einen maßgeblichen Einfluss auf die Bildung bleibender Erinnerungen hat, wird von zahlreichen Forschern geteilt. Da Kleinkinder diese Kompetenz noch nicht besitzen, kann eine Vielzahl früher Erfahrungen nicht effektiv im Gedächtnis gespeichert werden. Des Weiteren kann die hohe Neuroplastizität des kindlichen Gehirns zur Verdrängung früher Erinnerungen beitragen. Obgleich diese Formbarkeit ein rasantes Lernen ermöglicht, besteht gleichzeitig die Gefahr, dass frühe Erlebnisse überschrieben oder nicht fest verankert werden. Obgleich zahlreiche Hindernisse zu überwinden sind, existieren Möglichkeiten, um das Bewahren von Erinnerungen an die Kindheit zu gewährleisten. Die emotionale Bedeutung der Ereignisse spielt eine zentrale Rolle bei der Speicherung von Erinnerungen. Je stärker ein Erlebnis emotional aufgeladen ist, desto wahrscheinlicher wird es erinnert. Dies erklärt, warum manche frühen Erinnerungen, etwa an besondere Familienfeste, im Gedächtnis haften bleiben. Auch die häufige Wiederholung und Thematisierung von Erlebnissen erhöht deren Chance, erhalten zu bleiben. Erfahrungen, die sich oft wiederholen oder über die regelmäßig gesprochen wird, prägen sich tiefer ein.

Insgesamt zeigt sich also, dass die kindliche Amnesie das Resultat komplexer neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Prozesse ist. Gleichzeitig verdeutlichen die genannten Mechanismen aber auch, wie manche Kindheitserinnerungen trotz dieser Hürden im Gedächtnis verankert werden können.

Literatur

Bauer, Patricia J. & Larkina, Marina (2013). The onset of childhood amnesia in childhood: A prospective investigation of the course and determinants of forgetting of early-life events. Memory. doi: 10.1080/09658211.2013.854806.
Stangl, W. (2019, 22. August). Die Konsistenz frühester Erinnerungen. Stangl notiert …
https:// notiert.stangl-taller.at/forschung/die-konsistenz-fruehester-erinnerungen/
Stangl, W. (2015, 17. April). Infantile Amnesie. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https:// lexikon.stangl.eu/5740/infantile-amnesie


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