In sozialen Netzwerken wie TikTok, YouTube und Instagram kursieren unzählige vermeintliche Lerntipps. Insbesondere Gedächtnistechniken wie die Loci-Methode oder der sogenannte Gedächtnispalast erfreuen sich großer Beliebtheit. Diese Techniken, ursprünglich aus der antiken Rhetorik stammend, werden häufig von Gedächtniskünstler:innen in Showformaten verwendet und beeindrucken mit der Fähigkeit, scheinbar mühelos lange Listen oder Zahlenreihen zu memorieren. Ihr Transferwert für schulisches oder universitäres Lernen ist jedoch stark begrenzt (Bellezza, 1981; Maguire et al., 2003; Worthen & Hunt, 2011).
Gedächtnisakrobatik versus echtes Lernen
Der zentrale Irrtum vieler viraler Lernvideos liegt in der Gleichsetzung solcher Gedächtnisleistungen mit sinnvollem Lernen. Gedächtnissportler:innen trainieren hochspezialisierte Fähigkeiten für konkrete Aufgaben: das Memorieren abstrakter, kontextfreier Informationen in kurzer Zeit (Gruber & Müller, 2009). Diese Techniken erfordern nicht nur intensives Training und Vorwissen, sondern sind auch stark auf bestimmte Inhalte beschränkt. Der Aufbau eines Gedächtnispalastes ist etwa kognitiv anspruchsvoll und zeitintensiv – ein Aufwand, der sich beim Vokabellernen oder der Vorbereitung auf komplexe Prüfungsinhalte oft nicht auszahlt (Maguire et al., 2003; Neubauer & Holzinger, 2020).
Ein weiterer Nachteil besteht in der mangelnden Kontextualisierung: Lernen bedeutet mehr als das Einprägen von Einzelinformationen – es geht um Verständnis, Anwendung, Transfer und kritisches Denken. Mnemotechniken wie die Loci-Methode bieten hierfür kaum Anknüpfungspunkte (Bellezza, 1981). Für den Fremdsprachenerwerb etwa ist es entscheidend, Vokabeln in sinnvolle Sätze einzubetten, verschiedene Wortbedeutungen zu erfassen und aktiv mit Sprache umzugehen – das reine Memorieren per Gedächtnisbild reicht nicht aus (Neubauer & Holzinger, 2020).
Wissenschaftlich fundierte Lernstrategien
Im Gegensatz zu diesen spektakulären, aber alltagsfernen Techniken zeigen zahlreiche Studien, dass einfache, evidenzbasierte Lernmethoden langfristig weitaus effektiver sind:
- Aktives Abrufen (Retrieval Practice): Informationen regelmäßig aktiv aus dem Gedächtnis abzurufen, z.?B. durch Selbsttests oder das Erklären von Inhalten in eigenen Worten, verbessert die Langzeitbehaltensleistung deutlich (Roediger & Karpicke, 2006).
- Verteiltes Lernen (Spaced Practice): Statt „Bulimielernen“ in einer langen Sitzung ist es deutlich wirksamer, Lerninhalte über mehrere Tage hinweg in kürzeren Einheiten zu wiederholen (Cepeda et al., 2006; Dresel & Berner, 2013).
- Elaboration und Verknüpfung: Neue Informationen sollten aktiv mit Vorwissen verbunden und in Bedeutungskontexte eingebettet werden. So entsteht ein tieferes Verständnis und eine bessere Behaltensleistung (Bransford & Johnson, 1972; Dunlosky et al., 2013).
- Wechsel des Lernstoffes (Interleaving): Die Durchmischung verschiedener Themen innerhalb einer Lerneinheit führt zwar kurzfristig zu höherem kognitiven Aufwand, erhöht jedoch langfristig die Unterscheidung und das Verständnis von Konzepten (Rohrer et al., 2015).
Gefahren von Social-Media-Lerntipps
Die unkritische Verbreitung von „Lernhacks“ in sozialen Medien birgt zudem die Gefahr, falsche Erwartungen zu wecken. Die Präsentation von Gedächtnistricks als schnelle und mühelose Lösungen steht im Widerspruch zu den kognitiven Anforderungen echten Lernens. Viele Lernende, insbesondere Schüler:innen, werden so von effektiven Strategien wie regelmäßigem Wiederholen, Selbstüberprüfung und tiefer kognitiver Verarbeitung abgelenkt (Dunlosky et al., 2013). Die Folge sind Frustration und ineffizientes Lernen, wenn der erhoffte Erfolg ausbleibt.
Auch mediale Inszenierung spielt eine Rolle: In kurzen Clips lässt sich Aufmerksamkeit mit schnellen, visuell attraktiven Tipps leichter gewinnen als mit fundierter Lernpsychologie. Dabei bleibt oft unklar, ob die präsentierenden Personen überhaupt über pädagogisch-psychologisches Fachwissen verfügen. Eine reflektierte Quellenkritik ist daher entscheidend: Wer gibt den Tipp? Welche wissenschaftlichen Belege gibt es? Und: Passt die Methode zum Lernziel?
Fazit
Gedächtniskünstler:innen demonstrieren eindrucksvoll, wozu das menschliche Gehirn fähig ist – doch ihre Techniken sind selten auf schulisches oder universitäres Lernen übertragbar. Wer nachhaltig lernen möchte, sollte auf evidenzbasierte Strategien setzen, die Verständnis, Anwendung und Transfer fördern. Statt sich von Social-Media-Versprechungen blenden zu lassen, ist es zielführender, Lernmethoden zu nutzen, die durch Forschung gut abgesichert sind – auch wenn sie weniger spektakulär erscheinen.
Literatur
Bellezza, F. S. (1981). Mnemonic Devices: Classification, Characteristics, and Criteria. Review of Educational Research, 51(2), 247–275.
Bransford, J. D., & Johnson, M. K. (1972). Contextual prerequisites for understanding: Some investigations of comprehension and recall. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 11(6), 717–726.
Cepeda, N. J., Pashler, H., Vul, E., Wixted, J. T., & Rohrer, D. (2006). Distributed practice in verbal recall tasks: A review and quantitative synthesis. Psychological Bulletin, 132(5), 771–789.
Dresel, M., & Berner, J. (2013). Lernstrategien im schulischen Kontext. In J. Möller & O. Zlatkin-Troitschanskaia (Hrsg.), Handbuch der Schulpädagogik (S. 308–314). Klinkhardt.
Dunlosky, J., Rawson, K. A., Marsh, E. J., Nathan, M. J., & Willingham, D. T. (2013). Improving students’ learning with effective learning techniques: Promising directions from cognitive and educational psychology. Psychological Science in the Public Interest, 14(1), 4–58.
Gruber, H., & Müller, C. (2009). Gedächtnistraining oder Lerntraining? Zur Anwendbarkeit mnemonischer Techniken im Alltag. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 56(1), 19–28.
Maguire, E. A., Valentine, E. R., Wilding, J. M., & Kapur, N. (2003). Routes to remembering: The brains behind superior memory. Nature Neuroscience, 6(1), 90–95.
Neubauer, A., & Holzinger, M. (2020). Lernen lernen: Strategien und Methoden für Studium und Schule. Beltz.
Roediger, H. L., & Karpicke, J. D. (2006). Test-enhanced learning: Taking memory tests improves long-term retention. Psychological Science, 17(3), 249–255.
Rohrer, D., Dedrick, R. F., & Burgess, K. (2015). The benefit of interleaved mathematics practice is not (simply) an artifact of blocked test practice. Journal of Experimental Psychology: Applied, 21(4), 400–411.
Worthen, J. B., & Hunt, R. R. (2011). Mnemonology: Mnemonics for the 21st Century. Psychology Press.
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