Unselbständigkeit und der Autonomieverlust – vorwiegend deskriptiver Natur – zeichnen sich durch Multidimensionalität, Multikausalität und Multifunktionalität aus. Multidimensionalität: Vielschichtigkeit der Unselbständigkeit, ist auf die Hilfe von Mitmenschen angewiesen; wird unterschieden zwischen geistiger, körperlicher, ökonomischer, sozialer, emotionaler, kognitiver, realer, normaler oder neurotischer Unselbständigkeit. Multikausalität: Unselbständigkeit nicht unbedingt altersgebunden, wird durch Gesellschaft und diversen Organisationen geprägt; im Westen vor allem alte Menschen, Frauen, Arbeitslose und Behinderte. Multifunktionalität: Unselbständigkeit nicht ausschließlich negativ bewertet; Rollenverteilung um Energien für andere Tätigkeiten frei zu machen. Lediglich Ursachenforschung bei gesellschaftlich strukturierter Unselbständigkeit, körperliche Abhängigkeit und bei Verhaltensabhängigkeit (vgl. Baltes, 1995, S. 160-161).
Gesellschaftlich strukturierte Abhängigkeit (structured dependency) Das Konzept stammt aus der Soziologie und definiert den Wert des Menschen durch die Teilnahme am Produktionsprozess. Bestimmte kulturell-gesellschaftliche Begebenheiten führen zur Unselbständigkeit. Durch eine Analyse der Versorgungssysteme wurde belegt, dass alte Menschen Gefahr laufen jegliche Art von Autonomie zu verlieren. Körperliche Abhängigkeit (physical dependency) Dieses Konzept stammt aus der Epidemiologie und wird als körperliche Behinderung beschrieben, jedoch undefinierten Ausmaßes. Pfleger bzw. Helfer tendieren dazu körperliche Abhängigkeit als generelle Inkompetenz zu betrachten. (zb. Rollstuhlfahrer wegen Beinamputation – ansonsten voll entscheidungsfähig).Gefahr des dependent prone – durch Verallgemeinerung werden älter Menschen als total inkompetent angesehen und vorschnell von einem Bereich auf alle Lebensbereiche umgelegt. Verhaltensabhängigkeit (behavioral dependency) Die zwei Modelle, nämlich gelernte Hilflosigkeit und gelernte Abhängigkeit welche auf der sozialen Lerntheorie basieren, sehen soziale oder materielle Umweltbedingungen als Ursprung für Abhängigkeit an. Theoretische Unterscheidung erstens durch Spezifizierung der Quelle für Abhängigkeit: Nicht-Kontingenz (Seligmann), differentielle Kontingenzen (Baltes) und zweitens durch Evaluation der Konsequenzen: Kontrollverlust (Seligmann), Gewinn und Verlust (Baltes) (vgl. Baltes, 1995, S. 161-162).
Gelernte Hilflosigkeit | Gelernte Abhängigkeit | |
Ursache der Unselbständigkeit,Abhängigkeit | Nicht-Kontingenz der Umwelt
à nicht-responisven & vernachlässigende Umwelt |
Differentiellen KontingenzenAbhängigkeit: überresponsive und –protektive Umwelt
Selbsständigkeit: ignorierende Umwelt |
Abhängigkeit | Kontrollverlust | Verlust: Kompetenzenverlust durch NichtbenutzungGewinn: Erreichung bestimmter Ziele (Sozialkontakt) |
Interventionsmöglichkeit | Aufbau differentieller Umweltkontingenzen | Umlenken von Kontingenzen à positive Reaktionen und Aufmerksamkeit der Umwelt für Selbständigkeit statt für Unselbständigkeit |
Zwei Erklärungsmodelle für Verhaltensabhängigkeit
Modell der gelernten Hilflosigkeit Wissen um die eigene Kompetenz; jede Person glaubt solche Verhaltensweisen bzw. Fähigkeiten zu besitzen. Andererseits geht es um die Vorhersagbarkeit der Umweltreaktionen – Konsequenzen werden vorausgesagt. Modell der gelernten Abhängigkeit Analyse der Umweltbedingungen (differentielle Umweltkontingenzen für unselbständiges und selbständiges Verhalten; differentielle Konsequenzen von Abhängigkeit). Drei methodische Strategien: experimentelle, sequentielle und ökologische Interventionsstrategie: Experimentelle Strategie: Selbst chronisch unselbständige Verhaltensweisen lassen sich relativ leicht verändern; wahre Grund für Abhängigkeit sind soziale Umweltbedingungen. Sequentielle Beobachtungsstrategie: Hauptbeobachtungsmerkmal ist der Verhaltensfluss zwischen Personen im natürlichen Ereignisstrom (welches Verhalten X folgt auf welches Verhalten Y). Befunde der sequentiellen Beobachtungsstudie: Unselbständigkeit wird bestärkt, Selbständigkeit wird ignoriert. Auf unselbständiges und abhängiges Verhalten folgt Sozialkontakt à Unterstützung und Stärkung von Unselbständigkeit (dependency-script) bzw. Missachtung von Selbständigkeit (independance-ignore-script). Wenig abhängig von personenbezogenen Faktoren wie Geschlecht, Pflegestatus, Gesundheitszustand oder Alter. In Privathaushalten erbrachte es eine signifikante soziale Kontingenz für selbständiges Verhalten alter Menschen (Verstärkte Reaktion auf Selbständigkeit; Missachtung von Selbständigkeit bzw. Bestrafung von Selbständigkeit & Unabhängigkeit). Erwartungshaltung von Personen an älter Menschen: Inkompetenz; Lebensraum alter Menschen durch diskrimierbare Kontingenzen geprägt à Überprotektion und Förderung von Unselbständigkeit. Ökologische Interventionsstrategie: Ziel: Veränderung des Verhaltens der Sozialpartner um empfänglicher für Autonomie und Selbständigkeit zu sein. Pflegerinnen profitierten vom Trainingsprogramm. Möglich soziale Umwelt von alten Personen zu verändern und somit Selbständigkeit und Autonomie zu stimulieren. Aber, unselbständiges Verhalten kann für ältere Personen ein wichtiges Kornrollinstrument sein. Ziel ist eine gute Balance zwischen Kontrolle unselbständiger und selbständiger Verhaltensweisen (vgl. Baltes, 1995, S 162-167).
Verhaltensabhängigkeit als integraler Bestandteil erfolgreichen Alterns
Basierend auf dem Modell des erfolgreichen Alterns wurde aufgrund des altersbedingten Ressourcenverlustes ein drittes Paradigma, welches Verhaltensabhängigkeit als selbstregulierte oder selbstbestimmte Unselbständigkeit umschreibt. Durch Selektion, Kompensation und Optimierung wird nun erfolgreiches Altern gewährleistet: Selektion: Alle Kräfte müssen für Präferenzbereiche eingesetzt werden – andere vernachlässigen. Optimierung: Erwerb neuer Fertigkeiten, neuen Wissens & Einsatz neuer Technologien. Kompensation: Kontrollvergabe an Dritte (proxy control) – somit selbst induzierte Abhängigkeit (vgl. Baltes, 1995, S. 167-168).
Im Alter ist Kontrolle über den Alltag wichtig
Bellingtier & Neupert (2019) haben in einer Tagebuchstudie 116 ältere und 107 jüngere Erwachsene die Aussage untersucht, dass man nur so alt sei wie man sich fühlt. Doch es ist komplexer. Ältere Erwachsene fühlen sich an Tagen mit einem größeren Gefühl der Kontrolle als sonst deutlich jünger, doch dieser Effekt fehlt bei jüngeren Erwachsenen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine höhere tägliche Kontrolle mit einem geringeren subjektiven Alter bei älteren Erwachsenen verbunden ist, während andere Faktoren eine zentralere Rolle bei den täglichen Schwankungen des subjektiven Alters jüngerer Erwachsener spielen. Ältere Menschen fühlen sich daher nur dann jünger, wenn sie der Überzeugung sind, dass sie Kontrolle über ihren Alltag haben, und zwar unabhängig von Stress oder Gesundheitproblemen. Menschen unter Dreißig hingegen kommen sich älter vor als sie sind, wenn sie unter Druck stehen oder gesundheitliche Probleme haben, wobei aber Kontrolle oder Autonomie das gefühlte Alter bei ihnen nicht beeinflussen. Damit sich älteren Menschen jung fühlen, sollte man diesen möglichst viel Autonomie ermöglichen.
Literatur
Baltes, M. (1995). Verlust der Selbstständigkeit im Alter: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. Psychologische Rundschau, 46, 159-170.
Bellingtier, Jennifer A. & Neupert, Shevaun D. (2019). Feeling Young and in Control: Daily Control Beliefs Are Associated With Younger Subjective Ages. The Journals of Gerontology, doi:10.1093/geronb/gbz015.
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Sehr interessanter Artikel.