Eine bahnbrechende Ultrafeinstrukturkartierung der menschlichen Großhirnrinde zeigte, dass bisherige Annahmen über die Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns revidiert werden müssen. Nun haben Shapson-Coe et al. (2024) eine rechenintensive Rekonstruktion der Ultrastruktur eines Kubikmillimeters menschlicher Schläfenrinde einer 45-jährigen Frau durchgeführt, die chirurgisch entfernt worden war, um Zugang zu einem darunter liegenden Epilepsieherd zu erhalten. Diese Hirngewebeprobe wurde in gut 5.000 Nanometer dünne Scheiben geschnitten, die mit einem Multibeam-Elektronenmikroskop mit einer Auflösung von vier Quadratnanometern durchleuchtet wurden, so dass einzelne Zellen und Zellverbindungen sichtbar gemacht und digital rekonstruiert werden konnten.
Dieser winzige Ausschnitt eines menschlichen Gehirns enthielt etwa 57.000 Zellen, etwa 230 Millimeter Blutgefäße und etwa 150 Millionen Synapsen. Es zeigte sich, dass die Gliazellen die Neuronen im Verhältnis 2:1 überwogen, dass Oligodendrozyten die häufigsten Zellen waren, dass die erregenden Neuronen der tiefen Schicht anhand ihrer dendritischen Ausrichtung klassifiziert werden konnten und dass es unter Tausenden von schwachen Verbindungen zu jedem Neuron seltene starke axonale Eingänge mit bis zu 50 Synapsen gab.
Die Analyse ergab demnach, dass die Neuronendichte geringer ist als erwartet, dass einige Gehirnzellen mehrfach miteinander verbunden sind und dass es eine unerklärliche Ausrichtung einiger Neuronen gibt. Eine weitere Überraschung war die Entdeckung von Axonen, die über unerwartet viele Synapsen mit derselben Nachbarzelle verbunden waren. Die Dichte der Neuronen lag insgesamt bei etwa 16.000 Zellen pro Kubikmillimeter und damit um etwa ein Drittel niedriger als zuvor durch Lichtmikroskopie des Schläfenlappens geschätzt. Insgesamt 39 Prozent der Neuronen waren über sieben oder mehr Synapsen mit demselben Axon einer Nachbarzelle verbunden. Bei einigen wenigen Axonen fanden die Wissenschaftler sogar bis zu 50 Synapsen, die von dieser Nervenfaser zu einer anderen Zelle führten, wobei diese Axone zudem häufig verschlungene Abschnitte aufwiesen, die fast direkt auf der Oberfläche der mehrfach verbundenen Nachbarzelle lagen. Einige prä- und postsynaptische Zellpaare scheinen einen guten Grund dafür zu haben, stärker miteinander verbunden zu sein, als es normalerweise der Fall ist, aber warum das so ist, ist noch nicht geklärt. Die Ergebnisse werfen also neue Fragen auf und stehen nun anderen Neurowissenschaftlern zur Verfügung, um weitere Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu gewinnen.
Literatur
Shapson-Coe, Alexander, Januszewski, Micha?, Berger, Daniel R., Pope, Art, Wu, Yuelong, Blakely, Tim, Schalek, Richard L., Li, Peter H., Wang, Shuohong, Maitin-Shepard, Jeremy, Karlupia, Neha, Dorkenwald, Sven, Sjostedt, Evelina, Leavitt, Laramie, Lee, Dongil, Troidl, Jakob, Collman, Forrest, Bailey, Luke, Fitzmaurice, Angerica, Kar, Rohin, Field, Benjamin, Wu, Hank, Wagner-Carena, Julian, Aley, David, Lau, Joanna, Lin, Zudi, Wei, Donglai, Pfister, Hanspeter, Peleg, Adi, Jain, Viren & Lichtman, Jeff W. (2024). A petavoxel fragment of human cerebral cortex reconstructed at nanoscale resolution. Science, 384, doi: 10.1126/science.adk4858.
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