Unter auditiver Wahrnehmung versteht man traditionell die Wahrnehmung von Geräuschen, also etwa die Stimme eines Freundes, einen Donnerschlag, einen Mollakkord, wobei das tägliche Leben jedoch auch Erfahrungen beschert, die durch die Abwesenheit von Geräuschen gekennzeichnet sind, also einen Moment der Stille, eine Lücke zwischen Donnerschlägen, die Stille nach einer musikalischen Darbietung. Es stellt sich dabei die Frage, ob man in diesen Augenblicken wirklich Stille hört, oder man einfach nicht höret, sondern urteilt bzw. folgert, das es still ist. Diese Frage ist seit langem sowohl in der Philosophie als auch in der Wahrnehmungswissenschaft umstritten. So gibt es Theorien, die davon ausgehen, dass Geräusche die einzigen Objekte der Hörerfahrung sind und dass unsere Begegnung mit der Stille daher kognitiv und nicht wahrnehmungsbezogen ist. Diese Diskussion ist jedoch weitgehend theoretisch geblieben, ohne dass dies empirisch überprüft wurde.
Studien hatten bereits gezeigt, dass der Teil des Gehirns, der Geräusche verarbeitet, auch dann aktiv ist, wenn es nichts zu hören gibt. Den Versuchspersonen wurden kurze Stummfilme gezeigt, die zum Beispiel einen krähenden Hahn, einen heulenden Hund oder eine zerbrechende Vase zeigten. Gleichzeitig maßen sie die Aktivität im Hörzentrum des Gehirns, das bei allen Versuchspersonen aktiv war, obwohl es bei der Vorführung der Filme völlig still war, denn die Versuchspersonen hörten innerlich offensichtlich den krähenden Hahn und den bellenden Hund. Tatsächlich waren die Muster im Gehirn so unterschiedlich, dass man allein anhand der Gehirnsignale vorhersagen konnte, ob die Versuchsperson ein Tier, ein Instrument oder eine andere Szene gesehen hatte.
Goh, Phillips & Firestone (2023) präsentierten in sieben Studien experimentelle Beweise dafür, dass Stille tatsächlich wahrgenommen und nicht nur kognitiv abgeleitet werden kann. Sie fragten dabei, ob Stille Geräusche in ereignisbasierten auditiven Täuschungen ersetzen kann, also empirische Signaturen der auditorischen Ereignisrepräsentation, bei denen auditorische Ereignisse die wahrgenommene Dauer verzerren. In diesen Experimenten wurden drei akustische „Stille-Illusionen“ genutzt: die „Eine-Stille-ist-mehr-Illusion“, die „Stille-basierte Warping-Illusion“ und die „Oddball-Silence-Illusion“, die jeweils von einer prominenten Wahrnehmungsillusion abgeleitet wurden, von der man bisher annahm, dass sie nur bei Geräuschen auftritt.
In einem Versuch sollten Probanden die Zeitdauer von einer längeren oder zwei kurzen Phasen der Stille abschätzen, einmal durch direkten Vergleich, einmal beim einzelnen Hören. Es zeigte sich, dass die akustische Illusion wie bei ihrem Gegenpart mit Tönen funktionierte, wobei die einzelne lange Stille den Testpersonen länger erschien. Ähnliches zeigte sich bei der zweiten akustischen Illusion, bei dem dabei zwei kurze Pieps erscheinen, die während einer eingeschobenen Geräuschphase ertönen, zeitlich weiter auseinander als die gleichen Pieptöne bei Stille. Nun veränderte man die erste Bedingung so, dass die beiden Pieptöne während einer Unterbrechung des Hintergrundgeräuschs ertönten. Dabei zeigte sich, dass die Probanden die Töne in den eingebetteten Stillephasen als weiter auseinander einschätzten als die Töne in der reinen Stille. Bei der „Oddball“-Illusion hört man mehrere tiefe Töne gleicher Dauer hintereinander und dann überraschend einen hohen Ton, wobei sich die Frage stellt, ob diese unerwartete Abweichung die Zeiteinschätzung verzerrt, dass also der hohe Ton länger erscheint als ein weiterer tiefer Ton gleicher Länge. Mit dieser Illusion testete man nun den Effekt von Teil-Stillen, d. h., die Testpersonen hörten ein Geräuschgemisch aus einem höheren Orgelton und tiefem Motorengrollen, wobei dabei das Motorengeräusch mehrfach auf hörte. Als „Oddball“ blieb dann beim fünften Mal plötzlich die Orgel still und nur die Motoren liefen weiter. Auch hier schätzten die Testpersonen die abweichenden Teil-Stillen länger ein als eine den vorhergehenden Geräuschpausen entsprechende Pause.
Insgesamt zeigte sich, dass die Stillegeräusche in allen Fällen zeitliche Verzerrungen auslösten, die den durch Geräusche erzeugten Täuschungen vollkommen analog waren. Dies bedeutet also, dass Stille wirklich gehört und nicht nur abgeleitet wird, was einen allgemeinen Ansatz zur Untersuchung der Wahrnehmung von Abwesenheit darstellt. Offenbar verarbeitet das menschliche Gehirn Stille ähnlich aktiv wie Geräusche, wobei die Testpersonen nicht einfach nur die Dauer stiller Intervalle registrierten, sondern dass ihr Gehirn reizähnliche Repräsentationen der Stille konstruierte. Nach Ansicht der Flasche muss man sich die Verarbeitung von Stille so vorstellen, dass dabei eine Art leerer Ereignisdatei übergeben wird oder aber eine Datei, die nur nichtakustische zeitliche Information enthält. Wäre Stille nämlich nur die passive Abwesenheit von Schall, dann dürfte das Ohr dagegen gar keine Datei abschicken, doch hat sich in diesen Untersuchungen gezeigt, dass das tatsächlich der Fall ist.
Die anechoische Kammer
Eine anechoische Kammer, auch als „schalltote Kammer“ oder „reflexionsarmer Raum“ bezeichnet, stellt einen speziell konstruierten Raum dar, der so gestaltet ist, dass er nahezu alle Schallreflexionen und elektromagnetische Wellen absorbiert. Die Wände, der Boden und die Decke sind mit speziellen schallabsorbierenden Materialien ausgekleidet, wobei häufig keilförmige Strukturen zum Einsatz kommen. Die Erfahrung des Aufenthalts in einer anechoischen Kammer wird von den meisten Menschen als ungewöhnlich und mitunter als unangenehm beschrieben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die extreme Stille eine Wahrnehmung von Geräuschen evoziert, die üblicherweise nicht bewusst wahrgenommen werden. Dazu zählen beispielsweise das Blinzeln der Augen oder das Fließen des Blutes in den Adern. Einige Besucher berichteten von Übelkeit und Desorientierung, die durch die ungewohnte Stille ausgelöst wurden. In einer anechoischen Kammer wird der Mensch selbst zum Geräusch (Stangl, 2018).
Literatur
Goh, Rui Zhe, Phillips, Ian B. & Firestone, Chaz (2023). The perception of silence. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120, doi:10.1073/pnas.2301463120.
Meyer, K., Kaplan, J. T., Essex, R., Webber, C., Damasio, H. & Damasio, A. (2010). Predicting visual stimuli on the basis of activity in auditory cortices. Nature Neuroscience, 13, 667-668.
Man, Kingson, Melo, Gabriela, Damasio, Antonio & Kaplan, Jonas (2020). Seeing objects improves our hearing of the sounds they make. Neuroscience of Consciousness, doi:10.1093/nc/niaa014.
Stangl, W. (2018, 21. September). Was ist eine anechoische Kammer? was stangl bemerkt ….
https:// bemerkt.stangl-taller.at/was-ist-eine-anechoische-kammer.
Stangl, W. (2021, 13. Juli). Gehörsinn auch in der Stille aktiv. Stangl notiert ….
https:// notiert.stangl-taller.at/gehirnforschung/gehoersinn-auch-in-der-stille-aktiv/.
https://www.scinexx.de/news/psychologie/koennen-wir-die-stille-hoeren/ (23-07-11)
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