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Siegeszug der Psychologie im Alltag

Die Soziologin Eva Illouz untersucht in ihrem Buch „Die Errettung der modernen Seele“ den Siegeszug der Psychologen in unserer Gesellschaft und fragt , wie es dazu kommt, dass Psychologen eine so dominante Rolle spielen, dass deren therapeutische Sprache unser Liebes- und Arbeitsleben bestimmt. Der Siegeszug der Psychologen ist ihrer Meinung nach nicht nur daran zu erkennen, dass in den USA fast die Hälfte der Bevölkerung schon einmal beim Psychiater war, sondern eine therapeutische Perspektive sei heute Standard in Unternehmen, Massenmedien, in der Kindererziehung, in intimen und sexuellen Beziehungen, selbst in internationalen Konflikten. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Ichs, in dem über das Ich ständig geredet und diskutiert wird, um das gerungen wird.
Die Psychologie hat nach ihrer Meinung das Konzept der Modernität genutzt und Werte wie Freiheit, Fortschritt, Autonomie des Einzelnen übernommen, hat also eine Verbindung zum Utilitarismus gezogen und ist zu einer Wissenschaft des aufgeklärten und gemäßigten Selbstinteresses geworden. Dafür ist vor allem Sigmund Freud verantwortlich, denn er schuf eine eigene Sprache und lenkte das Interesse auf die Privatsphäre des Menschen und verlieh damit dem Alltagsleben einen neuen und noch nie da gewesenen Glanz, der dem Einzelnen zu verstehen gibt, dass das ereignislose und banale Reich des Alltäglichen der maßgebliche Schauplatz ist, an dem das Selbst errichtet und zerstört wird. Auch das Rollenverständnis der Geschlechter wurde verändert, denn Männer müssen wie Frauen sein, Frauen wie Männer.  Männer müssen heute mitfühlend und sensibel sein, Frauen unabhängig und autark. Damit ergibt sich eine paradoxe Anforderung an den modernen Menschen: Im Privatleben soll er bereit sein, Gefühle zu zeigen, während er am Arbeitsplatz seine Gefühle zu kontrollieren hat. Jeder Angestellte weiß: Wer Emotionen zeigt, hat zumeist schon verloren. Gefordert sind Taktgefühl, Unterordnung, Rationalität. Mitarbeitergespräche, Seminare über den rationalen Dialog zwischen Untergebenen und Vorgesetzten, Konfliktmanagement gehören zum standardisierten Repertoire der meisten Unternehmen. Auch bei der Erziehung zeigt sich dieses Dilemma: Wer seinen Kinder Freiheiten lässt, riskiert den Vorwurf, er vernachlässige sie, aber bei zu großer Nähe kommt irgendwann der Vorwurf, man unterdrückt die Kinder.

Quelle: http://www.welt.de/wams_print/article3965558/Dieses-Buch-macht-Sie-schlauer.html (09-06-22)


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Ein Gedanke zu „Siegeszug der Psychologie im Alltag“

  1. Sigmund Freuds charismatische Persönlichkeit allein erklärt nicht den Erfolg seiner Theorie, vielmehr fielen seine Auffassungen, die das alltägliche Leben in den Mittelpunkt rückten, im Amerika der Nachkriegszeit auf fruchtbaren Boden, da sie den modernen Menschen Rezepte lieferten, mit der zunehmenden Komplexität am Arbeitsplatz und in der Familie zurechtzukommen. Spätestens seit den 60er Jahren eroberte die Sprache der Psychologie nicht nur staatliche Institutionen, sondern auch die Küchen und Schlafzimmer der Mittelschicht. Selbstverwirklichung war das Gebot der Stunde, und wer hinter diesem Ideal zurückblieb, war krank. Die eigenen Gefühle von einem neutralen Beobachterposten aus zu benennen und anderen in einer adäquaten Sprache mitzuteilen, entwickelte sich bald zu einer Schlüsselkompetenz.
    Experten beanspruchten die Definitionshoheit über die seelische Gesundheit der Menschen, was auch ein wirtschaftlich durchaus lohnendes Unterfangen war. Durch die Klassifizierung, Etikettierung und Pathologisierung von Gefühlen und Verhaltensweisen, die vom Normalen abwichen, haben die Psychologen die Probleme teilweise erst geschaffen, zu deren Lösung sie dann selber notwendig sind. Ob Scheidung, Fettleibigkeit oder Wutmanagement: die öffentliche Inszenierung privaten Kummers in populären Ratgebern und Selbsthilfegruppen, die in eine „Tyrannei der Intimität“ ausgeartet ist, nährt einen ganzen Industriezweig.

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