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Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wirken bei Depressionen offenbar indirekt

Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen, Neues zu verarbeiten und Aufgaben umzuverteilen, etwa wenn es zu einer körperlichen Einschränkung oder Sinnesbehinderung kommt. Jüngst hat sich gezeigt, dass auch selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Selective Serotonin Reuptake Inhibitor – SSRI), häufig verschriebene Antidepressiva im Gehirn das Neurotransmitter-Regime und neuronale Netzwerke verändern und dabei auch die Neuroplastizität ankurbeln und so bestimmte Lernprozesse im Gehirn erleichtern. Reed et al. (2021) ist es mit bildgebenden Verfahren gelungen zu zeigen, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eine Veränderung der Mikrostruktur des Gehirns bewirken. Um zu untersuchen, ob Antidepressiva im Vergleich zu einem Placebo den Umlernprozess befördern, führte man eine sechswöchige Doppelblind-Studie mit achtzig gesunden Probanden und Probandinnen durch. Mittels Magnetresonanztomografie wurden die Mikrostruktur, die funktionelle und strukturelle Konnektivität sowie die Interaktion und Aktivität von Gehirnarealen gemessen, die bei Gedächtnisprozessen von besonderer Bedeutung sind, wie etwa der Hippocampus und die Insula. Zusätzlich wurde mitttels Magnetresonanzspektroskopie die Konzentration des wichtigsten erregenden Neurotransmitters, Glutamat, sowie des wichtigsten hemmenden Neurotransmitters, Gamma-Aminobuttersäure, in verschiedenen Gehirnregionen quantifiziert. Zunächst wurden bei allen Teilnehmenden die unbeeinflusste Vernetzung und die Aktivität der betreffenden Gehirnareale als auch die Konzentration von Neurotransmittern in einer Ausgangsuntersuchung gemessen. Anschließend lernte eine Gruppe täglich in einer konzentrierten Aufgabe, unbekannte Gesichter paarweise zusammenzuführen, und die andere Gruppe, chinesische Schriftzeichen mit Worten zu verknüpfen. Nach einer Vergleichsmessung begann die Einnahme von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern bzw. Placebos über drei Wochen samt begleitendem Umlernprogramm mit neuen Gesichtspaaren und Zeichen-Wort-Paaren. Bei der abschließenden Messung zeigte sich, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bewirken, dass neue Zusammenhänge leichter gespeichert werden. Offenbar ist die Erhöhung der Neuroplastizität ein wesentlicher Wirkmechanismus von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, diese stellen offenbar das Gehirn auf Empfang für neue Verknüpfungen und erleichtern das Lösen von Aufgaben. In Bezug auf Depressionen kann man den Schluss ziehen, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer offenbar nicht direkt akut auf die Stimmung der Betroffenen wirken, sondern die Empfänglichkeit für Umlernprozesse verändern und so unter günstigen Bedingungen aus der Depression heraus helfen.


Die Serotonin-Hypothese der Depression ist nach wie vor einflussreich, doch haben jüngst Moncrieff et al. (2022) die Erkenntnisse darüber, ob Depressionen mit einer verminderten Serotoninkonzentration oder -aktivität einhergehen, in einer systematischen Übersichtsarbeit über die wichtigsten relevanten Forschungsbereiche zusammengefasst und bewertet. Es wurden systematische Übersichten, Meta-Analysen und große Datensatzanalysen identifiziert, wonach zwei unabhängige Gutachter die Daten extrahierten und die Qualität der eingeschlossenen Studien bewerteten, wobei insgesamt 17 Studien eingeschlossen wurden. Die Qualität der Reviews war unterschiedlich, wobei einige genetische Studien von hoher Qualität waren. Zwei Meta-Analysen sich überschneidender Studien, die den Serotonin-Metaboliten 5-HIAA untersuchten, ergaben keinen Zusammenhang mit Depressionen. Eine Meta-Analyse von Kohortenstudien zum Plasmaserotonin ergab ebenfalls keinen Zusammenhang mit Depressionen und lieferte Hinweise darauf, dass eine niedrigere Serotoninkonzentration mit der Einnahme von Antidepressiva zusammenhängt. Die Hauptbereiche der Serotoninforschung lieferten keine konsistenten Nachweise für einen Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression und brachten auch keine Unterstützung für die Hypothese, dass Depressionen durch eine verminderte Serotoninaktivität oder -konzentration verursacht werden könnte. Einige Belege deuten auf die Möglichkeit hin, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva die Serotoninkonzentration verringert. Zusammengefasst: Messungen von Serotonin und seinen Abbauprodukten ergaben keinen Unterschied zwischen Gesunden und Menschen mit Depression, wobei die Serotonin-Aktivität am Rezeptor in einigen Studien bei beiden Gruppen vergleichbar war, in manchen sogar bei depressiven Patienten höher war. Auch gibt es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Depressionen und dem Serotoninrezeptor. Offenbar ist die Serotonin-Hyothese insgesamt betrachtet empirisch nicht belegt und hat trotz immenser Forschungsanstrengungen nicht überzeugend bewiesen werden können. Die Wirkung von Antidepressiva, sofern vorhanden, geht vermutlich auf den Placeboeffekt zurück oder auf allgemein emotional dämpfende Effekte.

Literatur

Moncrieff, Joanna, Cooper, Ruth E., Stockmann, Tom, Amendola, Simone, Hengartner, Michael P. & Horowitz, Mark A. (2022). The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review of the evidence. Molecular Psychiatry, doi:10.1038/s41380-022-01661-0.
Reed, M. B., Vanicek, T., Seiger, R., Klöbl, M., Spurny, B., Handschuh, P., Ritter, V., Unterholzner, J., Godbersen, G. M., Gryglewski, G., Kraus, C., Winkler, D., Hahn, A. & Lanzenberger, R. (2021). Neuroplastic effects of a selective serotonin reuptake inhibitor in relearning and retrieval. NeuroImage, 236, doi:10.1016/j.neuroimage.2021.118039.


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