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Religion und Lebenszufriedenheit

Die Beziehung zwischen Religion und Glück oder Lebenszufriedenheit ist ein komplexes und oft diskutiertes Thema in den Sozialwissenschaften. Während frühere Studien häufig einen positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und subjektivem Wohlbefinden feststellten, werfen neuere Untersuchungen Zweifel an der praktischen Relevanz dieses Effekts auf. Eine umfassende Studie von Prati (2024) analysierte Daten aus großen internationalen Erhebungen wie dem European Value Survey, dem World Value Survey und mehreren Langzeitstudien. Diese Analyse umfasste insgesamt fast 650.000 Teilnehmer aus 115 Ländern über einen Zeitraum von 1981 bis 2021. Pratis Ergebnisse zeigen, dass zwar ein statistisch signifikanter positiver Effekt von Religiosität auf die Lebenszufriedenheit und das Glücksempfinden nachweisbar ist, dieser Effekt jedoch so gering ausfällt, dass er in der Praxis kaum relevant erscheint. Zum Vergleich: Der Einfluss des Einkommens auf die Lebenszufriedenheit und das Glücksempfinden ist laut Prati um 150 bzw. 130 Prozent größer als der Effekt der Religiosität.

Diese Erkenntnisse stehen im Gegensatz zu früheren Annahmen und bieten eine mögliche Erklärung für das von Diener, Tay, & Myers (2011) beschriebene Religionsparadoxon – die Beobachtung, dass sich Menschen in wirtschaftlich entwickelten Ländern trotz der angenommenen positiven Effekte von Religion zunehmend von organisierter Religion abwenden. Prati weist darauf hin, dass bisherige Studien sich oft auf die statistische Signifikanz konzentrierten, ohne die tatsächliche Stärke des Effekts zu quantifizieren. Zudem könnten Verzerrungen durch den Publication Bias dazu geführt haben, dass der positive Effekt von Religion in Meta-Analysen überschätzt wurde. Eine mögliche Erklärung für den geringen Gesamteffekt könnte sein, dass Religion sowohl positive als auch negative Auswirkungen hat, die sich gegenseitig aufheben, d. h., während der Glaube Trost, Gemeinschaft und Struktur bieten kann, können strikte moralische Vorstellungen und die Furcht vor göttlicher Strafe negative Auswirkungen im Leben der Menschen haben.

Die Studien von Ed Diener et al. (2011) differenzieren das Bild weiter, denn sie zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Religiosität und Wohlbefinden von gesellschaftlichen Umständen abhängt, d. h., in Ländern mit schwierigeren Lebensbedingungen ist Religiosität weiter verbreitet und stärker mit sozialer Unterstützung, Respekt und Lebenssinn verbunden, was zu einem höheren subjektiven Wohlbefinden beiträgt. In Gesellschaften mit günstigeren Lebensumständen ist dieser Zusammenhang aber weit weniger ausgeprägt.

Die Beziehung zwischen Religion und Glück ist daher komplexer als oft angenommen, denn während Religion zweifellos im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle spielt, scheint ihr direkter Einfluss auf das Wohlbefinden gering zu sein. Diese Erkenntnisse stellen die praktische Bedeutung von Religion als Prädiktor für Wohlbefinden in Frage und unterstreichen die Notwendigkeit, den Kontext und die vielfältigen Faktoren zu berücksichtigen, die zum menschlichen Glück und zur Lebenszufriedenheit beitragen.

Literatur

Diener, E., Tay, L. & Myers, D. G. (2011). The religion paradox: If religion makes people happy, why are so many dropping out? Journal of Personality and Social Psychology, 101, 1278–1290.
Prati, G. (2024). Religion and well-being: What is the magnitude and the practical significance of the relationship? Psychology of Religion and Spirituality, 16, 367–377.


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