Psychotherapie verlangt eine psychologische Grundausbildung
In einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und des Fakultätentags Psychologie wurden 2018 Empfehlungen zur Zukunft des Faches Psychologie veröffentlicht. Einen Schwerpunkt bildet dabei die geplante Reform der Psychotherapeutenausbildung, wobei man davon ausgeht, dass die akademische Psychologie die Mutterwissenschaft der Psychotherapie darstellt. Deshalb sollen Psychologische PsychotherapeutiInnen in einem ersten Studienabschnitt in Form eines Bachelor-Studiums das Fach Psychologie in seiner gesamten Breite kennenlernen und dabei die Grundlagen, Methoden und Anwendungsfächer der Psychologie studieren. Anschließend sollen in einem zweiten Studienabschnitt praktische und wissenschaftliche Fertigkeiten in den Bereichen Klinische Psychologie und Psychotherapie in einem spezialisierten Master-Programm erworben werden. Damit soll die Psychotherapie-Ausbildung an die Strukturen anderer selbstständiger akademischer Heilberufe wie Medizin und Zahnmedizin angeglichen werden. Ziel dabei ist auch eine bessere Vernetzung der praktischen Ausbildung mit wissenschaftlichen Inhalten, denn während die bisherige Psychotherapie-Ausbildung weitgehend selbstfinanziert an privaten Instituten erfolgte, soll sie in Zukunft stärker an die Hochschulen und Universitäten angebunden werden. Nur dadurch ist eine enge Vernetzung der praktischen Ausbildung mit aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen möglich, denn Psychotherapie braucht eine lebendige und sich weiter entwickelnde Therapieforschung.
Kompetenzeinschätzung bei angehenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
Eine Studie von Fraunfelter, Gerdes & Alpers (2024) zeigt, dass angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten häufig Schwierigkeiten haben, ihre eigenen psychotherapeutischen Kompetenzen realistisch einzuschätzen. Im Zentrum der Untersuchung stand die Frage, inwieweit sich die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten mit der Bewertung durch Expertinnen deckt – ein Aspekt, der angesichts der Bedeutung präziser Selbsteinschätzung für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Arbeit von hoher Relevanz ist. Im Rahmen eines Gesprächsführungspraktikums führten 39 Masterstudierende des Studiengangs Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Mannheim Anamnesegespräche mit professionell geschulten Simulationspatientinnen und -patienten. Im Anschluss beurteilten sie ihre eigenen therapeutischen Kompetenzen, wobei diese Selbsteinschätzungen mithilfe der Cognitive Therapy Scale erhoben wurden. Die gleichen Gespräche wurden von einer Expertin anhand der Videoaufzeichnungen ebenfalls nach diesem Maßstab bewertet, sodass ein direkter Vergleich von Selbst- und Fremdeinschätzung möglich war. Die Ergebnisse zeigten eine nur geringe Übereinstimmung zwischen den beiden Bewertungsformen (ICC = 0,25), was auf eine systematische Verzerrung der Selbstwahrnehmung hinweist. Besonders bemerkenswert war, dass leistungsstärkere Studierende dazu neigten, ihre Kompetenzen zu unterschätzen, während leistungsschwächere Studierende häufig zu einer Überschätzung ihrer Fähigkeiten tendierten. Dieses Muster legt nahe, dass eine unrealistische Selbsteinschätzung nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein weitverbreitetes Phänomen in der Ausbildung angehender Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten darstellt. Darüber hinaus konnte ein signifikanter Einfluss der therapeutischen Selbstwirksamkeitserwartung auf die Selbstbewertung festgestellt werden: Studierende mit einer hohen Überzeugung in die eigene therapeutische Wirksamkeit beurteilten ihre Kompetenzen tendenziell positiver – unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung. Die wahrgenommene Schwierigkeit des Gesprächs hatte hingegen keinen nennenswerten Einfluss auf die Selbstbewertung. Diese Befunde haben weitreichende Implikationen für die psychotherapeutische Ausbildung. Selbstreflexion allein scheint nicht auszureichen, um eine realitätsnahe Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu ermöglichen. Vielmehr bedarf es strukturierter Rückmeldesysteme durch Lehrende oder externe Expertinnen, um verzerrte Selbstbilder zu korrigieren und die Entwicklung professioneller Kompetenz realitätsnah zu begleiten. Dies ist zwar mit einem erhöhten Aufwand verbunden, doch betonen die Autorinnen, dass auf individuelles Feedback im Rahmen der Ausbildung nicht verzichtet werden sollte, um die Qualität der therapeutischen Ausbildung zu sichern. Der gezielte Umgang mit Selbstwirksamkeitserwartungen sowie das Bewusstmachen möglicher Wahrnehmungsverzerrungen könnte zudem als ein Ansatz dienen, Studierende besser auf die Herausforderungen des therapeutischen Berufsalltags vorzubereiten.
Literatur
Fraunfelter, L.-A., Gerdes, A. B. M., & Alpers G. W. (2024). Spieglein, Spieglein an der Wand: Verzerrte Selbstbewertungen psychotherapeutischer Kompetenzen im Psychotherapie-Studiengang. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 75, 162-172.
Stangl, W. (2025, 30. Mai). Kompetenzeinschätzung bei angehenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5866/kompetenzeinschaetzung-bei-angehenden-psychotherapeutinnen-und-psychotherapeuten.