Das menschliche Gehirn lernt früh, archaische Impulse wie Gewalt zu unterdrücken, wobei Gewalt immer dann entsteht, wenn das Gehirn die Kontrolle nicht übernehmen kann. Allerdings gibt es mehrere Faktoren, die das Ausmaß der Gewaltbereitschaft mitbestimmen. Dabei spielt die genetisch-epigenetische Ausstattung, also die Gene und die Art und Weise, wie sie wirksam werden, eine bedeutende Rolle. Hinzu kommt die Gehirnentwicklung nicht nur der einzelnen Areale, sondern es kommt auch auf die Stärke der Verbindungen zwischen dem limbischen System, das weitgehend unbewusst agiert, und den kognitiven Zentren an, wobei diese beiden Faktoren etwa vierzig bis fünfzig Prozent einer Persönlichkeit ausmachen. Ebenfalls Einfluss auf die Gewaltbereitschaft eines Menschen haben seine prägenden Erfahrungen, die oft schon vor der Geburt beginnen, denn zahlreiche Prozesse im Körper der Mutter wirken sich auf die Gehirnentwicklung eines Kindes aus. Nach der Geburt sind es besonders Erlebnisse, die Stresszustände hervorrufen wie Gewalt, aber auch Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch. Etwa zwanzig Prozent werden durch die Sozialisation beeinflusst, die ab dem dritten oder vierten Lebensjahr erlebt werden, also alles, was bewusst oder unbewusst, im Miteinander mit Freunden, Autoritäten, Institutionen erlernt wird, hat eine Wirkung, doch auch dies vorwiegend in jenem Rahmen, den die ersten drei Faktoren vorgeben.
Eine gewaltbereite Persönlichkeit ergibt sich somit aus einer Wechselwirkung dieser vier Faktoren, die sich gegenseitig durchdringen und aus der Sicht der Psychologie im Einzelfall nur mit einem erheblichen methodischen Aufwand voneinander zu trennen sind.
Die Art der Gewalt wird im konkreten Fall stets stark durch die Umwelt beeinflusst, denn die menschliche Gewalt hat immer zwei Ausprägungen: die proaktiv-instrumentelle bzw. psychopathische Gewalt mit Defiziten in Empathie und Reue, wobei die Täter verminderte vegetative Reaktionen und in vielen fMRI-Studien eine reduzierte Aktivität der Amygdala sowie von corticalen Regionen zeigen, die mit Empathie und sozialem Handeln zu tun haben, während ihre intellektuellen Funktionen unbeeinträchtigt sind. Die zweite Ausprägung ist die reaktiv-impulsive Aggression, die sich vor allem im Zusammenspiel aus genetischen Disposition und Umwelteinflüssen entwickelt. Impulsiv-reaktive Gewalttäter zeigen gegenüber negativ emotionalen und bedrohlichen Reizen erhöhte vegetative Reaktionen und eine Volumen- und Aktivitätsverringerung in denjenigen frontalen Hirnarealen, die mit Impuls-, Ärger- und Furchtkontrolle zu tun haben, während die Aktivität der Amygdala als subcorticales Zentrum für Furchtempfindungen erhöht ist.
Bereits in der frühen Entwicklung eines Kindes zeigen sich charakteristische Temperamentsunterschiede von aggressiven Kindern, die auf eine unterschiedliche Ätiologie von reaktiver und proaktiver Gewalt hindeuten. Das Risiko für die Entwicklung reaktiver Gewalt wird vorwiegend durch negative Umwelteinflüsse bestimmt, während für spätere proaktive Gewalt ein weitgehend genetisch bedingter Risikofaktor angenommen werden muss, der eine Kombination aus emotionaler Verflachung und Unbeeinflussbarkeit durch elterliche Erziehung umfasst.
Eine bedeutende Rolle spielt dabei das Serotoninsystem, denn bei Stress ist vor allem ein frühkindliches Gehirn mit einem gestörten Serotoninsystem extrem vulnerabel. Kommen noch ungünstige Umweltfaktoren wie Risikoverhalten der Mutter oder Misshandlungserfahrungen während der Kindheit hinzu, werden wichtige Gehirnstrukturen, die für die Regulation und Kontrolle der Emotionen zuständig sind, nicht richtig entwickelt. Das menschliche Stresssystem wird durch traumatisierende Umwelteinflüsse während der Kindheit oft hypersensibel und neigt dann deshalb zu Überreaktionen, d. h., es fehlt der kontrollierende Impuls, weil die Interaktion zwischen den limbischen und den kognitiven Zentren im Gehirn gestört ist.
Dabei ist reaktiv-impulsive Gewalt bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen, wobei solche Gewalttäter ihre soziale Umwelt viel bedrohlicher und provozierender erleben, als sie tatsächlich ist. Indem sie auf diese Umwelt gewalttätig reagieren, geraten sie in einen Teufelskreis, und wirken dadurch oft auch bedrohlich auf andere Menschen, was dann häufig Situationen provoziert, die sie dann nicht mehr kontrollieren können.
Literatur
Roth, G. & Strüber, D. (2009). Neurobiologische Aspekte reaktiver und proaktiver Gewalt bei antisozialer Persönlichkeitsstörung und „Psychopathie“. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 58, 587-609.
Strüber, D., Lück, M. & Roth, G. (2008). Sex, aggression and impulse control: An integrative account. Neurocase, 14, 93-121.
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