Die kindliche Amnesie, das Phänomen, dass Menschen sich nicht an die ersten Lebensjahre erinnern können, stellt eine seit langem diskutierte wissenschaftliche Fragestellung dar. Trotz der enormen kognitiven und motorischen Fortschritte, die Säuglinge und Kleinkinder in ihren ersten Lebensjahren machen, fehlen bewusste Erinnerungen an diese Zeit. Ergebnisse der aktuellen Forschung legen nahe, dass die kindliche Amnesie weniger mit der Fähigkeit zur Gedächtniskodierung als vielmehr mit Defiziten im späteren Abruf zusammenhängt.
Eine aktuelle Studie von Yates et al. (2025) liefert neue Erkenntnisse darüber, warum diese frühkindlichen Erlebnisse aus unserem Gedächtnis verschwinden. Ein zentraler Faktor der kindlichen Amnesie ist die Entwicklung des Hippocampus, der als Gedächtniszentrum des Gehirns gilt. Laut Donato (zitiert in Yates et al., 2025) ist das Gehirn eines Säuglings zwar eine „außergewöhnliche Lernmaschine“, aber die strukturelle und funktionale Reifung des Hippocampus erfolgt erst allmählich. Diese Reifung könnte erklären, warum explizite Erinnerungen an frühkindliche Erlebnisse nicht dauerhaft gespeichert oder abrufbar sind.
Um das Phänomen näher zu untersuchen, führten Yates et al. (2025) eine Studie mit 26 Babys im Alter von vier bis 25 Monaten durch. Die Babys wurden mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) beobachtet, während sie sich Bilder ansahen. Die Forscher analysierten, ob die Kinder zuvor gesehene Bilder wiedererkannten, indem sie ihre Blickdauer auf bekannte und unbekannte Bilder verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass Babys ab dem zwölften Lebensmonat in der Lage waren, Erinnerungen zu kodieren, was durch eine verstärkte Aktivierung des hinteren Hippocampus sichtbar wurde.
Die Studie widerlegt die bisher verbreitete Annahme, dass kindliche Amnesie allein auf die Unreife des Hippocampus zurückzuführen ist. Vielmehr deutet sie darauf hin, dass frühkindliche Erinnerungen durchaus gespeichert werden, jedoch später nicht mehr abrufbar sind (Yates et al., 2025). Diese Hypothese deckt sich mit tierexperimentellen Studien, die ähnliche Befunde zeigten. Der Abrufmechanismus könnte sich mit zunehmendem Alter verändern, sodass frühe Erinnerungen nicht mehr zugänglich sind. Ein noch ungeklärtes Forschungsfeld ist die Dauerhaftigkeit dieser frühkindlichen Erinnerungen. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass sie bis ins Vorschulalter erhalten bleiben könnten. Turk-Browne (zitiert in Yates et al., 2025) erwähnt sogar die Möglichkeit, dass diese Erinnerungen in irgendeiner Form bis ins Erwachsenenalter fortbestehen, obwohl sie nicht bewusst abrufbar sind.
Die Zukünftige Studien könnten klären, welche Mechanismen den Verlust des Zugriffs auf diese frühen Erinnerungen verursachen und ob Möglichkeiten bestehen, sie später wieder zugänglich zu machen.
Literatur
Yates, T. S., Fel, J., Choi, D., Trach, J. E., Behm, L., Ellis, C. T., & Turk-Browne, N. B. (2025). Hippocampal encoding of memories in human infants. Science, 387(6740), 1316-1320. https://doi.org/10.1126/science.adt7570
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