Das soziale und kulturelle Leben des Menschen beruht auf einer einzigartigen Reihe von kommunikativen Fähigkeiten, wobei neu entstehende Kommunikationssysteme einen Einblick in die kognitiven und interaktionellen Grundlagen dieser Fähigkeiten bieten. Zwar ist weitgehend unbekannt, wie die mehr als 6000 natürlichen Sprachen der Welt entstanden sind, doch in jüngster Zeit sind neue Gebärdensprachen unter Gehörlosen entstanden, die sich in einer Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, was Einblicke in die Dynamik der Sprachevolution bietet. Bei der Dokumentation der Entstehung dieser Sprachen wurde jedoch meist nur das Endprodukt untersucht, d. h., der Prozess, durch den Ad-hoc-Zeichen in ein strukturiertes Kommunikationssystem umgewandelt werden, wurde nicht direkt beobachtet.
In einem Versuch von Bohn et al. (2019) mussten Kinder in einem stummen Videogespräch einem Partner eine Bedeutung vermitteln, obwohl sie nicht in der Lage waren, gesprochene Sprache zu verwenden. Die gestischen Codesysteme, die die Kinder innerhalb einer 30-minütigen Testsitzung ad hoc erzeugten, wiesen zentrale Merkmale einer natürlichen Sprache bzw. einer entstehenden Gebärdensprachen auf: Referenzsignale für Objekte, Handlungen und abstrakte Konzepte, konventionelle Verwendung dieser Signale und eine grammatikalische Struktur. Um neuartige Botschaften, einschließlich abstrakter Konzepte, zu kommunizieren, schufen Kinder in Zweiergruppen spontan neuartige gestische Zeichen, wobei diese mit der Zeit diese Zeichen zunehmend willkürlich und konventionalisiert wurden. Als die Kinder mit der Notwendigkeit konfrontiert wurden, komplexere Bedeutungen zu kommunizieren, begannen sie, ihre Gesten grammatikalisch zu strukturieren.
Offenbar verfügen Kinder über die grundlegenden Fähigkeiten, die nicht nur für den Erwerb einer natürlichen Sprache, sondern auch für die spontane Schaffung einer neuen Sprache erforderlich sind. Auf Basis der vorliegenden Studie erscheinen daher folgende Schritte für die Entwicklung von Sprache plausibel: Zunächst werden Personen, Handlungen oder Gegenstände durch Zeichen dargestellt, die den Dingen ähneln. Voraussetzung hierfür ist ein gemeinsamer Erfahrungsschatz der Interaktionspartner, wobei die Gesprächspartner auch einander nachahmen, sodass sie die gleichen Zeichen für die gleichen Dinge verwenden, d. h., die Zeichen gewinnen eine Bedeutung. Im Laufe der Zeit werden die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Dingen immer abstrakter und die Bedeutung der einzelnen Zeichen spezieller, wobei nach und nach auch grammatikalische Strukturen eingeführt werden, wenn das Bedürfnis besteht komplexere Sachverhalte zwischen Dingen zu kommunizieren. Bemerkenswert ist, dass man diese Prozesse schon innerhalb einer halben Stunde beobachten kann, d. h., die Geschwindigkeit, mit der Kinder diese strukturierten Systeme schafften, könnte tiefgreifende Auswirkungen auf die Theorien über die Evolution der Sprache, einen Prozess, von dem man im Allgemeinen annimmt, dass er sich über viele Generationen, wenn nicht gar Jahrtausende erstreckt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen aber, dass sprachähnliche Kommunikationssysteme schnell aus sozialer Interaktion entstehen können.
Literatur
Bohn, Manuel, Kachel, Gregor & Tomasello, Michael (2019). Young children spontaneously recreate core properties of language in a new modality. Proceedings of the National Academy of Sciences, 116, 26072-26077.
https://www.mpg.de/14204907/wie-entsteht-sprache (20-02-03)
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