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Henri Bergsons Gedächtnissysteme

Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.
Henri-Louis Bergson

In seiner Abhandlung über das menschliche Gedächtnis unterscheidet Henri Bergson, ein einflussreicher französischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, zwischen zwei grundlegenden Kategorien: dem habituellen Gedächtnis und dem reinen Gedächtnis. Die beiden Gedächtnissysteme erfüllen unterschiedliche Funktionen und weisen jeweils spezifische Charakteristika auf.

  • Das habituelle Gedächtnis (auch: Gedächtnis der Gewohnheiten) ist für die Speicherung und Anwendung von Fertigkeiten, Verhaltensmustern und Routinen verantwortlich. Es steht in engem Zusammenhang mit dem Körper und den automatisierten Handlungsabläufen des Menschen. Das Erlernen von Fähigkeiten wie Fahrradfahren, Schwimmen oder dem Gebrauch von Werkzeugen führt zur Entwicklung eines solchen Gedächtnisses, welches es ermöglicht, die entsprechenden Fertigkeiten ohne bewusste Reflexion abzurufen und anzuwenden. Sobald eine solche Fertigkeit erlernt wurde, kann sie auch nach einer längeren Zeitspanne ohne bewusste Erinnerung an die ursprüngliche Lernphase ausgeführt werden. Das habituelle Gedächtnis arbeitet folglich in hohem Maße automatisch und unbewusst. Es unterstützt den Menschen dabei, sein Verhalten an bekannte Situationen anzupassen und effizient mit der Umwelt zu interagieren, ohne dass jede einzelne Handlung einer bewussten Reflexion unterzogen werden muss. In diesem Kontext erweist sich das habituelle Gedächtnis als maßgeblich für die Aufrechterhaltung von Gewohnheiten und Routinen.
  • Demgegenüber ist das reine Gedächtnis für die bewusste Erinnerung an persönliche Erlebnisse, Fakten und Erfahrungen zuständig. Das reine Gedächtnis ist in der Lage, vergangene Ereignisse und Situationen unabhängig von den aktuellen körperlichen Bedürfnissen zu speichern. Das reine Gedächtnis erfordert aktives Erinnern und ruft persönliche, zeitlich verortete Erinnerungen ab, die nicht unmittelbar mit einer praktischen Anwendung verbunden sind. Dazu gehören etwa das klare Erinnern an den ersten Schultag, an ein besonderes Urlaubserlebnis oder an ein lang zurückliegendes Gespräch. Diese Erinnerungen sind in der Regel mit einem starken emotionalen Gehalt sowie einem Gefühl der Zeitlichkeit verbunden. Sie ermöglichen die Wahrnehmung der eigenen Individualität sowie die Einordnung des eigenen Lebens in einen sinnvollen Kontext.

Das habituelle Gedächtnis ist folglich eher auf Automatismen und Gewohnheiten ausgerichtet, während das reine Gedächtnis eine wesentliche Funktion für die Ausbildung der individuellen Identität sowie die Selbstreflexion erfüllt. Die beiden Gedächtnissysteme stehen in einer engen Wechselwirkung zueinander und tragen in unterschiedlicher Weise zu unserem Erleben und Handeln bei. Nach Bergson interagieren diese beiden Gedächtnissysteme in einer fortwährenden Wechselwirkung, wobei sie sich im menschlichen Alltagsleben gegenseitig ergänzen. Das habituelle Gedächtnis ist für die Automatisierung von Abläufen zuständig, während das reine Gedächtnis die Möglichkeit bietet, flexibel und zielgerichtet auf gespeichertes Wissen und Erinnerungen zurückzugreifen. Zusammen ermöglichen sie ein effizientes und sinnvolles Handeln in der Welt.


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