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Familie und Lesekompetenz

„Das systematische Lesenlernen findet in der Schule statt. Dennoch hat die Familie, in der ein Kind aufwächst, für die Vermittlung von Kulturtechniken, wie dem Lesen, zentrale Bedeutung“ (Hurrelmann, 2004, zit. nach McElvany, 2008, S. 122). Übergeordnetes Ziel einer Gesamtstudie war deshalb, die Leseentwicklung von Kindern im Längsschnitt von der 3. bis zur 6. Jahrgangsstufe der deutschen Grundschule zu untersuchen und individuelle, soziale und institutionelle Einflussfaktoren auf das Lesen zu ermitteln (vgl. McElvany et al., 2009, S. 124). Dabei wurde untersucht, ob familiäre Strukturmerkmale in Zusammenhang mit den familiären Prozessmerkmalen stehen und wie sich die familiären Strukturmerkmale auf die lesebezogenen individuellen Merkmale und auf den Erwerb von Lesekompetenz in der Grundschule auswirken. Als konkrete Hypothesen zu diesen Forschungsfragen haben die Autoren drei Haupteinflussfaktoren, die Einfluss auf den Erwerb von Lesekompetenz haben, genannt. Das sind familiäre Strukturmerkmale, familiäre Prozessmerkmale und individuelle Merkmale. Dabei erschienen bei den familiären Strukturmerkmalen der sozioökonomische Status (Einkommen, Besitz, Prestige), das Bildungsniveau der Eltern und der familiäre Migrationsstatus, insbesondere die zu Hause gesprochene Familiensprache, von Relevanz. Als relevante Prozessmerkmale familiärer Lesesozialisation wurden kulturelle Ressourcen (Buchbesitz), kulturelle Praxis (Leseanregung durch Gespräche und Aktivitäten), lesebezogene Einstellungen der Eltern (Eltern als Vorbild) und die elterliche Kompetenz der lesebezogenen Förderung ihrer Kinder genannt. Diese beiden Haupteinflussfaktoren wirkten jeweils getrennt mit den individuellen Merkmalen zusammen. Individuelle Merkmale waren Lesemotivation, Leseverhalten und Wortschatz (vgl. McElvany et al., 2009, S. 124f).


Anmerkungen: Als Wortschatz bezeichnet man ganz allgemein die Gesamtheit aller Wörter einer Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. die Gesamtheit aller Wörter einer Sprache, die eine einzelne Sprecherin oder ein einzelner Sprecher kennt oder verwendet. Bei SprecherInnen unterscheidet man zwischen rezeptiver oder passivem Wortschatz (Verstehenswortschatz), also die Wörter, die der er bzw. sie kennt oder erkennt, und aktivem Wortschatz, also die Wörter, die jemand im Alltag benutzt. Der rezeptive Wortschatz verhilft zum Verstehen gesprochener und geschriebener Texte, d. h., die Sprecherin bzw. der Sprecher kann zu einem gehörten oder gelesenen Wort die Bedeutung aus dem Gedächtnis abrufen oder auch mit Hilfe der Wortbildungsregeln erschließen. Der produktive oder aktive Wortschatz ermöglicht der Sprecherin bzw. dem Sprecher, sich verständlich auszudrücken bzw. er oder sie kann zu einer bestimmten Bedeutung das zugehörige Wort aus dem Gedächtnis abrufen. Die Lesekompetenz stellt ein komplexes Fähigkeitskonstrukt dar und kann als ein Bündel von Teilfähigkeiten verstanden werden, wobei diese im Gegensatz zur Lesefertigkeit nicht nur die eigentliche Fähigkeit umfasst, Schriftzeichen zu entziffern (Zuordnung von Graphemen und Phonemen), sondern sie bezieht sich auf komplexe kognitive Leistungen, die weit über das eigentliche Dekodieren hinaus reichen. In der kognitionspsychologischen Leseforschung meint Lesekompetenz daher die Fähigkeit zu text- und wissensbasierten Verstehensleistungen, d. h., die Lesekompetenz bezieht sich in erster Linie auf das Verstehen von Texten, wobei es aber nicht nur um die Rekonstruktion von Bedeutungsinhalten geht, sondern um die Zusammenführung der im Text vorhandenen Informationen mit dem Vorwissen durch verschiedene textbezogene Verarbeitungsprozesse und leserbezogene Strategien. Lesen ist demnach ein aktiver Prozess der (Re-)Konstruktion von Textbedeutung, also die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um bestimmte eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und dadurch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Lesekompetenz ist also dadurch definiert, dass man nicht nur einzelne Worte entziffern kann, sondern die Worte zu Sätzen zusammenfügen kann, um daraus den Sinn und die Bedeutung zu erschließen.


Die Forschungsfragen wurden anhand von Längsschnittdaten von 772 GrundschülerInnen aus 54 verschiedenen Klassen aus 22 Berliner Grundschulen unterschiedlicher Bezirke für den Zeitraum vom Ende der dritten bis Ende der sechsten Klasse untersucht. Das Studiendesign stammt vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Nach McElvany et al. (2009, S. 126) konnte die Modellgüte des Modells, das vier miteinander korrelierte Faktoren der Lesesozialisation spezifiziert, als gut bezeichnet werden. Aus den Forschungsergebnissen von McElvany et al. (2009) konnten folgende statistisch signifikante Zusammenhänge festgestellt werden (d.h. diese sind nicht zufällig zustande gekommen):

  • Der Buchbesitz der Familie korrelierte mit allen drei Strukturmerkmalen (S. 126).
  • Lesebezogene Gespräche und Aktivitäten hatten einen positiven Zusammenhang mit dem elterlichen Bildungsniveau (S. 126).
  • Mit dem Bildungsniveau wie auch mit dem sozioökonomischen Hintergrund der Familie ging ebenfalls eine Wertschätzung des Lesens einher (S. 126).
  • Die elterliche Kompetenz zur Förderung der Kinder war insbesondere in den Familien höher, in denen Deutsch als Familiensprache gesprochen wurde (S. 126).
  • Durch den sozioökonomischen Status haben sich die vorhandene Bücherzahl und die lesebezogenen Einstellungen der Eltern vorhersagen lassen (S. 126).
  • Durch Bücher als kulturelle Ressourcen konnte der Wortschatz und die Lesekompetenz vorhergesagt und das Leseverhalten beeinflusst werden (S. 127).
  • Lesebezogene Gespräche und Aktivitäten als Teil der familiären kulturellen Praxis sagten sowohl die Lesemotivation als auch das Leseverhalten voraus (S. 127).

Laut McElvany et al. (2009) gab es keine statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen der Einstellung der Eltern und den individuellen Merkmalen (S. 127) und zwischen den Aktivitäten und Gesprächen sowie der Wertschätzung und der Lesemotivation auf die spätere Lesekompetenz (S. 127ff). Kinder erhalten in Abhängigkeit von den Familien, in denen sie aufwachsen, mehr oder weniger Möglichkeiten, um an lesefördernden Aktivitäten von hoher Qualität teilzuhaben. Damit sind sie auch unterschiedlich stark gefährdet, im Kompetenzerwerbsprozess benachteiligt zu sein. Die familiären Aspekte sind allerdings beeinflussbar und durch Interventionen veränderbar (vgl. McElvany et al., 2009, S. 130).

Literatur

McElvany, N., Becker, M. & Lüdtke, O. (2009). Die Bedeutung familiärer Merkmale für Lesekompetenz, Wortschatz, Lesemotivation und Leseverhalten. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 41 (3), 2009, 121-131.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wortschatz (12-11-21)


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