„Mind Blanking“ – das Erleben eines plötzlich leeren Geistes – ist ein alltägliches Phänomen, das vielen Menschen vertraut ist. Man sitzt in einem Meeting, ist kurz abgelenkt, und erkennt im nächsten Moment, dass man an nichts gedacht hat. Dieses Phänomen, das bisher wenig beachtet wurde, wird von einem internationalen und interdisziplinären Forschungsteam um Thomas Andrillon, Jennifer Windt, Antoine Lutz und Athena Demertzi nun als ein eigenständiger und messbarer Geisteszustand beschrieben. Es unterscheidet sich sowohl vom Tagträumen als auch vom bewussten Denken und stellt damit gängige Vorstellungen von Bewusstsein infrage. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, dass der Wachzustand durch einen kontinuierlichen Fluss von Gedanken, Gefühlen und Sinneseindrücken geprägt ist, zeichnet sich Mind Blanking gerade durch das Fehlen solcher Inhalte aus. Menschen berichten, in Momenten des Mind Blankings „an nichts gedacht“ oder sich nicht erinnern zu können, woran sie gedacht haben. Das unterscheidet diesen Zustand vom Tagträumen, das in der Regel mit inneren Bildern, Geschichten oder bewusster Reflexion einhergeht (Andrillon et al., 2021).
Wissenschaftlich betrachtet zeigt sich Mind Blanking besonders gegen Ende längerer kognitiver Anstrengung, bei Schlafmangel oder nach körperlicher Erschöpfung. Andrillon und seine Kollegen vermuten, dass bestimmte Erregungszustände – insbesondere ein Rückgang der Wachsamkeit – eine Rolle spielen. EEG-Messungen (Elektroenzephalografie), bei denen die elektrische Aktivität des Gehirns erfasst wird, zeigten, dass Mind Blanking mit neuronalen Mustern einhergeht, die dem leichten Schlaf ähneln. Es kommt zur sogenannten „globalen Synchronisation“, einer Verlangsamung und Koordinierung der Hirnaktivität, wie sie sonst beim Einschlafen beobachtet wird (Andrillon et al., 2021). Besonders faszinierend ist die Erkenntnis, dass einzelne Hirnareale während des wachen Zustands zeitweise in eine Art „lokalen Schlaf“ übergehen könnten. Diese lokalen Ruhephasen könnten eine ähnliche Funktion wie der nächtliche Schlaf erfüllen, etwa das „Aufräumen“ neurotoxischer Stoffwechselprodukte oder die Konsolidierung von Erinnerungen. Mind Blanking würde dann gewissermaßen als mikrobiologisches Wartungsprogramm des Gehirns dienen – eine Art kurzzeitiger Ruhezustand während des Tages.
Die praktische Relevanz dieser Forschung ist erheblich. So könnte ein besseres Verständnis von Mind Blanking zur Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen beitragen. Menschen mit ADHS, Angststörungen oder Schlaflosigkeit berichten häufiger von ungewollter Gedankenleere. Wäre Mind Blanking objektiv messbar, ließen sich neue diagnostische Werkzeuge entwickeln, die auf physiologischen Daten beruhen und nicht allein auf subjektiven Symptomen (Andrillon et al., 2021). Darüber hinaus existieren interessante Parallelen zu meditativen Zuständen, in denen erfahrene Meditierende ebenfalls von inhaltslosem Gewahrsein berichten. Die moderne Mind-Blanking-Forschung nähert sich also Zuständen, die in spirituellen Traditionen seit Jahrtausenden bekannt sind – allerdings mit wissenschaftlichen Methoden und einer säkularen Perspektive. Gerade für Menschen, die sich eher mit empirischen Ansätzen als mit religiösen Praktiken identifizieren, eröffnet dies neue Möglichkeiten zur geistigen Regeneration und möglicherweise zur Therapie psychischer Belastungen.
Um die Bandbreite mentaler Leerzustände besser zu erfassen, hat das Forschungsteam ein Kompendium mit acht verschiedenen Formen geistiger Leere erstellt – darunter auch „weiße Träume“, in denen sich Menschen im Schlaf ihrer selbst bewusst sind, jedoch keinen konkreten Inhalt erinnern. Diese Phänomene könnten Ausdruck eines Spektrums minimalen Bewusstseins sein – eines Grenzbereichs zwischen Wachheit und Schlaf, in dem das Bewusstsein zwar erhalten bleibt, jedoch ohne konkrete Inhalte operiert. Die Vorstellung, dass Bewusstsein nicht notwendigerweise mit der Präsenz von Gedanken einhergeht, fordert etablierte Theorien der Bewusstseinsforschung heraus. Statt das Denken als Voraussetzung für Bewusstsein zu begreifen, legt die Forschung zu Mind Blanking nahe, dass auch das Wissen um die Abwesenheit von Gedanken eine Form bewusster Erfahrung darstellt. In der Tat könnte gerade dieses paradoxe Erleben – die bewusste Wahrnehmung der Leere – ein besonders eindrucksvolles Beispiel menschlichen Bewusstseins sein.
Literatur
Andrillon, T., Burns, A., Mackay, T., Windt, J. & Tsuchiya, N. (2021). Predicting lapses of attention with sleep-like slow waves. Nature Communications, 12, doi:10.1038/s41467-021-23890-7.
Stangl, W. (2022, 20. Mai). Mind Blanking.
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