Menschliche Erinnerungen sind ein faszinierendes, jedoch oft fehleranfälliges und flexibles Phänomen. Psychologische Forschung hat gezeigt, dass Erinnerungen nicht statische Reproduktionen der Vergangenheit sind, sondern lebendige, plastische Konstrukte, die sich über die Zeit verändern können. Dies lässt sich durch verschiedene psychologische Mechanismen und Theorien erklären, die das Verständnis der Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung weiter vertiefen. Der Begriff „plastisch“ bezieht sich dabei auf die Fähigkeit des Gedächtnisses, sich zu verändern und zu adaptieren, während „trügerisch“ auf die Möglichkeit hinweist, dass Erinnerungen verzerrt oder ungenau sein können. Ein solcher Gedächtnisprozess wird durch die Komplexität und die Einflussfaktoren, die auf die Erinnerung einwirken, sowohl innerhalb des individuellen Bewusstseins als auch durch externe Umstände, beeinflusst.
Ein zentraler Punkt bei der Betrachtung der Plastizität von Erinnerungen ist, dass das Gedächtnis kein isolierter Mechanismus ist, der vergangene Ereignisse exakt speichert. Vielmehr handelt es sich um einen aktiven Prozess, der stark von der Art und Weise beeinflusst wird, wie Informationen enkodiert, gespeichert und abgerufen werden (Schacter, 1999). Die Enkodierung selbst ist nicht immer vollständig oder exakt, und Erinnerungen werden oft durch subjektive Interpretationen und Filter geprägt, die unsere Wahrnehmung und Emotionen betreffen (Bartlett, 1932). Eine Theorie, die diese Konstruktion von Erinnerungen erklärt, ist das Konzept der „Rekonstruktiven Erinnerung“, das besagt, dass Erinnerungen bei ihrem Abrufen nicht einfach wie ein Film abgerufen werden, sondern in jedem Moment rekonstruiert werden, basierend auf bestehenden kognitiven Schemata und aktuellen Bedürfnissen oder Erwartungen des Individuums (Loftus & Palmer, 1974).
Darüber hinaus gibt es zahlreiche empirische Befunde, die zeigen, wie externe Informationen und suggestive Einflüsse Erinnerungen verfälschen können. Die berühmten Studien von Elizabeth Loftus und Kollegen zur „falschen Erinnerung“ demonstrieren, wie einfache Fragen oder suggestive Aussagen die Art und Weise verändern können, wie Menschen sich an Ereignisse erinnern. In einem ihrer Experimente zeigte sich, dass Teilnehmer, denen nach einem Autounfall Fragen wie „Wie schnell fuhren die Autos, als sie in den anderen kollidierten?“ gestellt wurden, später die Erinnerung hatten, dass der Unfall viel dramatischer war, als er tatsächlich gewesen war (Loftus, 1975). Solche Effekte sind nicht nur in laborbasierten Experimenten zu beobachten, sondern auch im Alltag. Medienberichte, Augenzeugenberichte und sogar Gespräche mit anderen Menschen können die Art und Weise beeinflussen, wie Erinnerungen gebildet und später abgerufen werden.
Ein weiterer Mechanismus, der die Trügerischkeit menschlicher Erinnerungen erklären kann, ist die Rolle von Emotionen. Forschungen haben gezeigt, dass emotionale Ereignisse oft intensiver erinnert werden als neutrale, da sie durch das limbische System, insbesondere durch die Amygdala, verstärkt werden (Phelps, 2004). Dies führt zu einer verzerrten Wahrnehmung, bei der die emotionale Bedeutung eines Ereignisses überschätzt und andere Details möglicherweise vergessen oder verändert werden. Zudem kann das Wiedererleben emotionaler Erfahrungen durch den Gedächtnisabruf selbst neue Emotionen hervorrufen, die die Erinnerung weiter transformieren (Kensinger & Schacter, 2006).
Ein weiteres Konzept, das für das Verständnis der Trügerischkeit von Erinnerungen wichtig ist, ist die Theorie der „source monitoring errors“. Diese Theorie besagt, dass Menschen oft nicht genau wissen, woher ihre Informationen stammen, was zu Fehlern in der Erinnerungsbildung führen kann (Johnson, Hashtroudi & Lindsay, 1993). Eine Person könnte sich beispielsweise an ein Ereignis erinnern, aber unsicher sein, ob sie es selbst erlebt hat, es aus einer Geschichte gehört hat oder es in einem Film gesehen hat. Solche Fehler können zu falschen oder ungenauen Erinnerungen führen und sind besonders problematisch in rechtlichen Kontexten, in denen die Genauigkeit von Zeugenaussagen von entscheidender Bedeutung ist (Loftus, 2005).
Diese Trügerischkeit und Plastizität von Erinnerungen hat weitreichende Konsequenzen für viele Bereiche des Lebens, von der klinischen Psychologie bis hin zu juristischen und forensischen Fragestellungen. Im Bereich der Therapie beispielsweise können falsche oder verzerrte Erinnerungen zu psychischen Störungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) oder falschen Erinnerungen an Missbrauch führen (Lynn et al., 2013). In der Forensik kann die Fehleranfälligkeit menschlicher Erinnerungen dazu führen, dass Zeugen falsche Aussagen machen oder sogar der Fehler gemacht wird, einen unschuldigen Verdächtigen zu verurteilen, basierend auf fehlerhaften Erinnerungen von Augenzeugen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Erinnerungen keinesfalls präzise Aufzeichnungen der Vergangenheit sind, sondern vielmehr flexible und anfällige Konstrukte, die von zahlreichen internen und externen Faktoren beeinflusst werden. Diese Erkenntnisse zur Plastizität und Trügerischkeit von Erinnerungen werfen ein neues Licht auf unsere Auffassung von „Wahrheit“ und „Erinnerung“. Sie erfordern ein sorgfältiges Nachdenken über die Bedingungen, unter denen Erinnerungen gebildet, verändert und erinnert werden, und unterstreichen die Bedeutung eines bewussteren Umgangs mit Erinnerungen in verschiedenen Lebensbereichen.
Literatur
Bartlett, F. C. (1932). Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge University Press.
Johnson, M. K., Hashtroudi, S., & Lindsay, D. S. (1993). Source monitoring. Psychological Bulletin, 114(1), 3-28.
Kensinger, E. A., & Schacter, D. L. (2006). Memory distortion in healthy aging. Current Directions in Psychological Science, 15(5), 226-230.
Loftus, E. F. (1975). Leading questions and the eyewitness report. Cognitive Psychology, 7(4), 560-572.
Loftus, E. F. (2005). Eyewitness Testimony (2. Aufl.). Harvard University Press.
Loftus, E. F., & Palmer, J. C. (1974). Reconstruction of automobile destruction: An example of the interaction between language and memory. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 13(5), 585-589.
Lynn, S. J., Kirsch, I., & Lilienfeld, S. O. (2013). Memory, Trauma, and the Recovery of False Memories. Wiley-Blackwell.
Phelps, E. A. (2004). Emotional memory: In search of the mechanisms. Current Directions in Psychological Science, 13(3), 111-114.
Schacter, D. L. (1999). The Seven Sins of Memory: How the Mind Forgets and Remembers. Houghton Mifflin.
Stangl, W. (1989, 16. April). Vergessen Gedächtnis Erinnern. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEDAECHTNIS/Vergessen.shtml
Stangl, Werner. (2011, 1. Mai). Erinnern, die Schwester des Vergessens. SIEB.10 @ 4711.
https:// literatur.stangl.eu/erinnern-die-schwester-des-vergessens/
Stangl, W. (2012, 8. Jänner). Vergessen. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https:// lexikon.stangl.eu/7763/vergessen.
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