Es ist eine interessante Frage, wie Berührungen der Oberfläche des menschlichen Körpers in dreidimensionale Information übersetzt werden. Die menschliche Haut ist bekanntlich nur ein zweidimensionales Blatt, das aufgrund der Beweglichkeit der Körperteile in eine Vielzahl von Konfigurationen gefaltet werden kann. Bisher nahm man an, dass eine Berührung etwa am Arm sofort damit abgeglichen wird, wo sich die Extremität gerade im Raum befindet, d. h., dann würde die Berührungsinformation direkt in eine 3D-Raumkoordinate umgerechnet. In den vergangenen Jahren fanden sich aber immer mehr Zweifel, ob das Gehirn dabei wirklich diese 3D-Koordinaten verwendet.
Teile des menschlichen Tastsinns könnten für diese Flexibilität verantwortlich sein, indem sie auf Orte in der Welt und nicht auf der Haut abgestimmt sind. Mit Hilfe von Adaptation untersuchten Badde & Heed (2023) die räumliche Selektivität von zwei taktilen Wahrnehmungsmechanismen, für die die visuellen Äquivalente in Weltkoordinaten selektiv sind: taktile Bewegung und die Dauer taktiler Ereignisse. Die Handposition der Teilnehmer – ungekreuzt oder gekreuzt – sowie die stimulierte Hand variierten unabhängig voneinander während der Anpassungs- und Testphasen. Dieses Design unterschied also zwischen somatotopischer Selektivität für Orte auf der Haut und spatiotopischer Selektivität für Orte in der Umgebung, testete aber auch räumliche Selektivität, die zu keinem dieser klassischen Referenzrahmen passt und auf der Standardposition der Hände basiert. Bei beiden Merkmalen wirkte sich die Anpassung konsequent auf die nachfolgende taktile Wahrnehmung an der angepassten Hand aus, was die hautgebundene räumliche Selektivität widerspiegelt. Die taktile Bewegung und die zeitliche Adaptation übertrugen sich jedoch auch über die Hände hinweg, allerdings nur, wenn die Hände während der Adaptationsphase gekreuzt wurden, d.h., wenn eine Hand an der typischen Position der anderen Hand platziert wurde.
Man gewöhnte die Nervenzellen, die die Berührung registrieren, in der links liegenden rechten Hand an lange andauernde, sich bewegende Berührungsreize, was die betroffenen Nervenzellen ermüden lässt, sodass anschließend eher Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung wahrgenommen werden. Dann wurden die Hände entkreuzt und nach einer kurzen Pause wieder überkreuzt, wobei die Raumlage-Information automatisch einberechnet werden sollte, so dass sich der Gewöhnungseffekt bei der dann erneut im linken Raum liegenden rechten Hand einstellen müsste. Erstaunlicherweise fand aber Gewöhnung auch dort statt, wo die Hand normalerweise liegt, d. h., die linke Hand im rechten Raum zeigte also plötzlich den Gewöhnungseffekt, obwohl sie vorher überhaupt nicht berührt worden war. Offenbar geht das Gehirn von einer Basisstellung (default posture) aus, d. h., dass die rechte Hand im Gehirn auch mehr oder weniger fix für den rechten Raum steht, weil sie sich üblicherweise unter der Schulter hängend ebendort befindet. Nach diesen Untersuchungen ist die Lage der Hand während des Gewöhnens offenbar egal, was von der Perspektive des Gehirns aus Sinn macht, da in der Regel selten mit den Augen überprüft wird, wo sich etwa die rechte Hand gerade befindet. Diese Ergebnisse stellen die vorherrschende Dichotomie von somatotopischer und spatiotopischer Selektivität in Frage und deuten darauf hin, dass die Vorinformation über die Standardposition der Hände – rechte Hand auf der rechten Seite – tief im taktilen Sinnessystem verankert ist. Hinzu kommt wohl, dass Menschen einen relativ schlecht ausgeprägten Raumlagesinn haben, denn so fällt es Menschen oft erstaunlich schwer, bei Dunkelheit auch in gut bekannten Räumen den Lichtschalter zu finden. Die Selektivität für Orte in der Welt beruhte also eher auf Standard- als auf Online-Sinnesinformationen über die Lage der Hände.
Literatur
Badde, Stephanie & Heed, Tobias (2023). The hands’ default location guides tactile spatial selectivity. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120, doi:10.1073/pnas.2209680120.
https://www.diepresse.com/6277925/wie-weiss-das-gehirn-wo-der-koerper-beruehrt-wird (23-04-20)
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