Nach Ansicht mancher Experten schrumpft die Gedächtniskapazität der Menschen, während das Mittelalter noch vollständig auf deren Möglichkeiten setzen konnte. Im Spätmittelalter wurde die Schrift zum großen Wissensspeicher, zugleich übten die Menschen explizit die eigene Gedächtnisleistung, denn es erschienen massenhaft Texte, die die eigene Gedächtniskapazität stärkten. Gleichzeitig breitete sich die Schriftlichkeit explosionsartig aus, wobei der Buchdruck die Antwort auf den gewachsenen Bedarf an Schriftlichkeit war, denn das händische Kopieren reichte nicht mehr aus. Als sich die Verschriftlichung verbreitete, war es für die Kulturen eine große Herausforderung, vor allem religiöse Geschichten sowie ethische und rechtliche Inhalte sowohl individuell wie kollektiv zu bewahren und zu vermitteln.
Die Schrift wurde im Spätmittelalter somit zum Massenspeicher von Wissen, und trat damit in Konkurrenz mit dem größten Datenträger der damaligen Zeit, dem menschlichen Gehirn. Diesem Zweck diente die ars memorativa, die Gedächtniskunst, die im 14. und 15. Jahrhundert zu einer der bemerkenswertesten Erscheinungen der spätmittelalterlichen Zivilisation wurde. Die Menschen reagierten also auf die Verschriftlichung von Wissen mit Gedächtnisübungen und wollten damit die eigene Gehirnleistung gegenüber dem neuen Massenmedium Schrift verteidigen. Man kannte ein breites Spektrum an Variationen mnemotechnischer Methoden, mit denen man damals bedeutsame Inhalte erinnerte und weitergab. Solche wichtigen kulturellen Zeugnisse waren die Bibel, historische Literatur aber auch juristisches Regelwerk. Die Methoden dienten als Werkzeug ethischer und Glaubensunterweisung in unterschiedlichsten Bildungskontexten vom individuellen Studium über klösterliche und universitäre Lehrsituationen bis hin zur Predigt.
Bereits seit der Antike gab es eine kritische Bewegung gegen Schriftlichkeit, denn so kritisierte Platon den Erfinder der Schrift in „Phaidros“, denn der habe eine Kunst erfunden, die Vergessenheit schaffe. Als das vergessensfördernde Medium Schrift in der spätmittelalterlichen Welt Platz griff, wuchs gleichzeitig das Rettende der Gedächtniskunst, d. h., die Menschen reagierten auf die mittelalterlichen Medienrevolution und wollten ihr Gedächtnis retten.
Die dabei angewandte Technik lässt sich mit dem Mind Mapping vergleichen, denn es ging darum, ein Thema zu erschließen, indem man es visualisiert und ordnet, sodass die Struktur dann beim Erinnern hilft. Beim Mind Mapping hat man jedoch eine schriftliche Skizze, während die ars memorativa schriftlos arbeitete. Heute wird das Wissen mehr oder minder vollständig in die digitale Welt ausgelagert, denn die Menschen denken, dass alles, was sie dem Computer anvertrauen, vergessen werden kann, wobei aber auch viele Fähigkeiten des menschlichen Gehirns abgeschwächt werden. Es muss offen bleiben, ob der moderne Mensch eine analoge Gegenkultur zur digitalen Revolution finden wird.
Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns?
Das menschliche Gehirn ist zwar hoch anpassungsfähig, d. h., Menschen können sehr viel lernen, doch die die genetische Grundkonstitution des Gehirns verändert sich nur in Zeiträumen von Zehntausenden von Jahren. Ein aktuelles damit verbundenes Problem ist, dass Menschen zu viel Wissen auslagern und nicht mehr selbst versuchen, Wissen abzuspeichern, was aber notwendig wäre, um über komplexe Probleme nachdenken zu können und selber auf neue Lösungen zu kommen. Digital Natives denken bei einfachen Fragen gar nicht mehr darüber nach, ob sie die Antwort selbst wüssten, sondern versuchen sofort eine Internetsuche. Doch vernünftige Suchanfragen sind letztlich nur möglich, wenn man schon viel weiß, denn sonst erhält man tausende Antwort-Treffer in 0,4 Sekunden, die man auf Grund fehlenden Grundwissens nicht bewerten kann, sondern von einer Suchmaschine nach irgendwelchen Kriterien geordnet wurde. Die meisten NutzerInnen lesen auch nur die ersten drei Treffer und glauben dann, die richtige Antwort zu haben, doch um eine Antwort als gut oder schlecht einschätzen zu können, muss man schon ein umfangreiches Vorwissen besitzen. Durch die neuen Medien mit der Verfügbarkeit von Informationen – und das in riesigen Mengen – beginnt das menschliche Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten flacher und ungeduldiger zu denken, wodurch Menschen einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Untersuchungen zeigen auch, dass etwa Links in Hypertexten sogar dann ablenken, wenn sie nicht aufgemacht werden, nur weil sie vorhanden sind, denn Links können den Impuls im Kopf auslösen, auf die neue Netzseite zu springen. Diesen Wunsch muss das Gehirn unterdrücken und dieses Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis.
Informationen zu besitzen und Denken zu können ist ein Unterschied, denn um ein Thema wirklich zu durchdringen, muss man selber im Kopf Informationen und Muster abgespeichert haben und damit arbeiten. Das Gehirn ist kein Datenspeicher, sondern wenn Menschen auf einem Gebiet viel lernen, d. h., Experte oder eine Expertin werden, verändert sich deren Gehirn, und die Wahrnehmung auf das Thema funktioniert anders, ebenso Denken und Handeln. Im Gehirn verändert sich durch dieses Auslagern der Informationen das Arbeitsgedächtnis, sodass auch das Konzentrationsvermögen, also die Zeit, wie lange man sich konzentrieren kann, ohne abgelenkt zu werden, immer kürzer wird. Nach Untersuchungen können NutzerInnen am Computer nur mehr etwa vierzig Sekunden einer Sache nachgehen, bevor sie sich ablenken lassen, was kaum zu einer sinnvollen Arbeitsproduktivität führt. Wenn das Gehirn sich fühlt von der Informationsmenge überfordert, die es verarbeiten soll, dann setzt man sich nicht hin und versucht, differenzierter zu denken, sondern schaltet das Gehirn in einen Modus, undifferenziert zu denken und die Informationen eher abzuwehren. Da beginnt das Gehirn die große Datenmenge reduzieren, indem es nur noch schwarz-weiß gibt, d. h., zu hohe Komplexität führt zum Vereinfachen.
Literatur
Wójcik, R. & Seelbach, S. (2014). Ars Memorativa in Central Europe. Daphnis, Bd. 41, No 2.
Interview mit Martin Korte, Professor in der Abteilung Zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 13. Juli 2019.
Nachricht ::: Stangls Bemerkungen ::: Stangls Notizen ::: Impressum
Datenschutzerklärung ::: © Werner Stangl :::