Es gibt nach dem Vergleich zahlreicher Studien nur einen mäßigen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und der intellektuellen Leistung, d. h., dass die Größe des Gehirns für Leistungen etwa bei IQ-Tests eher eine untergeordnete Rolle spielt. Entscheidend ist vielmehr die Struktur des Gehirns, also der Aufbau von Cortex, Mittelhirn, Kleinhirn usw. und dass weiße und graue Gehirnmasse optimal miteinander verbunden sind. Der schwache Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intelligenz lässt sich eher als Art kognitive Reserve interpretieren, denn wenn gewisse Hirnareale nur suboptimal funktionieren, kann man auf diese Reservekapazität zurückgreifen. Aus neueren Studien weiß man etwa, dass es zahlreiche Zusammenhänge zwischen Gehirngröße, Ernährung, Sozialleben und Kognition gibt, wobei z.B. Lemuren mit ihren deutlich kleineren Gehirnen im Schnitt genauso gut in kognitiven Tests abschneiden wie andere Primaten, was selbst für Mausmakis gilt, die ein rund zweihundertfach kleineres Gehirn als Schimpansen und Orang-Utans haben. Lediglich beim räumlichen Denkvermögen schneiden die Primatenarten mit größeren Gehirnen besser ab. Beim Verständnis für kausale und numerische Zusammenhänge sowie bei den Tests zu sozialen kognitiven Fähigkeiten lassen sich allerdings keine systematischen Unterschiede zwischen den Arten erkennen. Das bedeutet, dass man kognitive Fähigkeiten nicht verallgemeinern kann, sondern dass sich Arten viel mehr in bestimmten Bereichen innerhalb ihrer sozialen und technischen Fähigkeiten unterscheiden, daher kann auch ein Zusammenhang zwischen Gehirngröße und kognitiven Fähigkeiten nicht generalisiert werden.
Kurioses: Als der britische Neurologe Henry C. Bastian 1882 feststellte, dass das Gehirngewicht des männlichen Negers mit dem Gewicht des Gehirns der europäischen Frau übereinstimmt, schien dadurch die Überlegenheit des weißen Mannes über die Frau und den Fremden wissenschaftlich bewiesen.
Genç et al. (2018) haben in einer Untersuchung der Gehirne von 259 Männern und Frauen mittels Neurite Orientation Dispersion and Density Imaging (einer besondere Form der Magnetresonanztomografie) untersucht, wieviele Dendriten zu anderen Nervenzellen in Verbindung stehen, wobei alle Probanden auch einen Intelligenztest durchführten. Dabei zeigte sich, dass je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger Dendriten er in der Großhirnrinde aufweist. Anhand des öffentlich zugänglichen Datensatzes des Human-Connectome-Projekts konnte dieses Ergebnis bestätigt werden, denn der Zusammenhang zwischen Dendritenmenge und Intelligenz fand sich auch in dieser Stichprobe. Dadurch konnte bestätigt werden, dass intelligentere Menschen trotz ihrer vergleichsweise hohen Anzahl an Nervenzellen weniger neuronale Aktivität beim Bearbeiten eines Intelligenztests zeigen als die Gehirne von weniger intelligenten Menschen. Intelligente Gehirne zeichnen sich offenbar durch eine effiziente Vernetzung der Neuronen aus, sodass eine hohe Denkleistung bei möglichst geringer neuronaler Aktivität erzielbar ist.
*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Mit einem durchschnittlichen Gewicht von 1300 bis 1500 Gramm hat das menschliche Gehirn einen Anteil von etwa 2 % am Körpergewicht, während ein Schimpansengehirn mit einem Gewicht von rund 420 Gramm nur knapp ein Prozent und ein Elefantengehirn mit 5000 Gramm nur rund 0,2 % des jeweiligen Körpergewichts ausmacht. Allerdings wird der Mensch bezüglich seines relativen Gehirngewichtes von manchen Kleinsäugern übertroffen, denn bei Spitzmäusen beträgt das Gehirngewicht 4 Prozent des Körpergewichtes, doch auch innerhalb der Primaten besitzen einige kleinere Arten wie die Kapuzineraffen ein etwa gleich hohes relatives Gehirngewicht. Bezogen auf die Körpergrösse ist das Gehirn jedoch zwei- bis dreimal so gross wie das eines Primaten derselben Körpergröße.
Seit der Abspaltung des Menschen von dem gemeinsamen Vorfahren mit Schimpansen und anderen Menschenaffen hat sich das menschliche Gehirn dramatisch verändert. doch welche genetischen und entwicklungsdynamischen Prozesse für diese Abweichungen verantwortlich sind, ist bisher unklar. Zerebrale Organoide, also hirnähnliche Gewebe, die aus Stammzellen in der Petrischale gezüchtet werden, bieten nun die Möglichkeit, die Evolution der frühen Gehirnentwicklung im Labor zu untersuchen. Um die Genexpressionsdynamik und die regulatorischen Besonderheiten menschlicher Organoide zu untersuchen, verfolgten Kanton et al. (2019) über vier Monate hinweg die Entwicklungsprozesse zerebraler Organoide aus menschlichen pluripotenten Stammzellen. Anschließend verglich man zerebrale Organoide von Schimpansen und Makaken mit den Menschen, wobei sich eine ausgeprägtere cortikale Neuronenreifung bei Schimpansen- und Makakenorganoiden im Vergleich zu menschlichen Organoiden des gleichen Entwicklungsstandes zeigte, was darauf hindeutet, dass die menschliche neuronale Entwicklung langsamer verläuft als bei den anderen beiden Primatenarten. Dieser Befund liefert eine Erklärung dafür, warum Menschen deutlich länger brauchen, um erwachsen zu werden, denn das Gehirn nimmt sich deutlich mehr Zeit, um zu reifen und dabei deutlich komplexere Strukturen auszubilden. Mehr Zeit bedeutet dabei auch mehr Platz für zusätzliche Informationen.
Hunde verfügen über etwa 530 Millionen Neuronen, Katzen nur über 250 Millionen, wobei Hunde zur den Tieren mit den meisten Neuronen zählen, obwohl sie im Verhältnis zu ihrer Körpergröße nicht das größte Gehirn haben. Hunde besitzen rein biologisch gesehen die Fähigkeit, komplexere und flexiblere Dinge anzustellen als Katzen. Waschbären haben übrigens eine ähnlich große Neuronen-Anzahl wie Hunde bei einem deutlich kleineren Gehirn. Waschbären sind aber nicht sehr typisch für Karnivoren, doch sie haben eine Neuronendichte, wie man sie sonst nur bei Primaten findet . Das Gehirn eines Braunbären hingegen ist etwa zehn Mal größer als das einer Katze, er besitzt aber nicht mehr Neuronen als diese.
Kopffüßer wie Sepien und Tintenfische besitzen ein sehr komplexes Gehirn, denn nach einer detaillierten Magnetresonanzuntersuchung eines Tintenfischgehirns war dieses mit dem Gehirn eines Hundes durchaus vergleichbar, wobei dieses nach der Anzahl der Neuronen das Gehirn von Mäusen und Ratten sogar übertrifft. Kopffüßer wie der Sepioteuthis lessoniana besitzen mehr als fünfhundert Millionen Neuronen im Vergleich zu zweihundert Millionen bei Ratten oder zwanzigtausend bei gewöhnlichen Weichtieren. Dies erklärt das komplexe Verhalten von Kopffüßern, einschließlich der Fähigkeit, etwa ihre Farbe zu ändern, um sich zu tarnen, und miteinander unter Verwendung einer Vielzahl von Signalen zu kommunizieren. Zahlreiche neuronale Schaltkreise sind dabei für die Tarnung und visuelle Kommunikation angelegt, wodurch Tintenfische in der Lage sind, Raubtieren auszuweichen oder erfolgreich zu jagen. Dies Ähnlichkeit des Zentralnervensystems mit Wirbeltieren bestätigt die Konvergenzevolutionshypothese, nach der Organismen in verschiedenen Arten unabhängig voneinander ähnliche Merkmale entwickelt haben. Die Ähnlichkeit mit Nervensystemen der Wirbeltiere ermöglicht es sogar, die Funktion des Nervensystems der Kopffüßer auf der Ebene des Verhaltens vorherzusagen, wobei einige Neuronennetze für das Verhalten mit visueller Kontrolle wie etwa die Tarnung unter Berücksichtigung des Schattens zuständig sind, um sich besser in einen Hintergrund einzufügen.
Lea & Osthaus (2018) haben in einer Studie gezeigt, dass die Intelligenz von Hunden überschätzt wird, denn Hunde sind nicht unbedingt klüger als andere Tiere. Eine Metaanalyse von dreihundert Studien zeigte, dass Hunde zwar in einigen Fällen tatsächlich schlauer handelten als etwa Schimpansen, doch es gibt vergleichbare Tierarten, die mindestens genauso gut abschneiden wie Hunde, z. B. Wölfe, Bären, Löwen und Hyänen. Auch die Hunden zugeschriebenen außergewöhnlichen auditiven Fähigkeiten, etwa die Unterscheidung von Stimmen, besitzen auch Katzen, nur reagieren sie nicht unbedingt so darauf, wie Menschen es sich wünschen, sodass es auch schwieriger ist, eine Katze zu dressieren. Stimmen gut voneinander unterscheiden können auch Flusspferde, Zwergotter oder Schafe. Vor allem Wölfe sind lernfähiger als Hunde.
Groß angelegte Studien zur tierischen Kognition haben Zusammenhänge zwischen dem absoluten Gehirnvolumen und den Unterschieden der Spezies in den Exekutivfunktionen aufgezeigt. Haushunde bieten entgegen den diesbezüglichen Untersuchungen bei Primaten aufgrund ihrer engen genetischen Verwandtschaft, aber auch der enormen intraspezifischen Variation, eine gute Möglichkeit, solche Fragen zu untersuchen. Horschler et al., 2019) haben an Daten von mehr als 7000 reinrassigen Hunden aus 74 Rassen und der Kontrolle der genetischen Verwandtschaft zwischen den Rassen starke Zusammenhänge zwischen dem geschätzten absoluten Gehirngewicht und den Rassenunterschieden in der Kognition identifiziert, wobei insbesondere beim Kurzzeitgedächtnis und der Selbstkontrolle größere Rassen deutlich besser abschnitten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass evolutionäre Zunahmen der Hirngröße positiv mit Unterschieden in der exekutiven Funktion verbunden sind, auch wenn es keine primatenartige Neuroanatomie gibt.
Übrigens: Verglichen mit ihren verwandeten Reptilienarten haben Vögel auch ein größeres Gehirn im Verhältnis zu ihrer Körpergröße, was ihnen die für das Fliegen nötigen Fähigkeiten wie eine besonders gute Sicht und Koordination ermöglicht. Dreidimensionale Untersuchungen der Schädel von Dinosauriern und Vögeln ergaben jedoch, dass zumindest einige Saurierarten wie die gefiederten Oviraptoro-Dinosaurier und die vogelähnlichen Troodontidae, die etwa zur gleichen Zeit wie der Urvogel lebten, ebenfalls über ein flugtaugliches Gehirn verfügten.
Domestikation die Ursache einer Verkleinerung des menschlichen Gehirns?
Bekanntlich gilt ein großes Gehirn gilt bei Vergleichen im Tierreich als Indikator für mehr geistige Leistung, sodass nach Seymour et al. (2019) die frühen Mitglieder des menschlichen Stammbaums den heutigen Schimpansen und Gorillas überlegen gewesen sein müssten, denn deren Gehirne sind höchstens genauso groß, wenn nicht kleiner als die des Australopithecus. Ein besseres Maß für die Gehirnleistung ist die Dichte, mit der Neurone über Synapsen miteinander verknüpft sind, wobei diese Synapsen auch die anteilsmäßig höchsten Anforderungen an die Energieversorgung stellen. Das menschliche Gehirn verwendet etwa 70 Prozent seiner Energie für die Aktivität der Synapsen, sodass man die Gehirne der Primatenarten anhand ihrer Blutversorgung vergleichen müsste. Je leistungsfähiger ein Gehirn, desto mehr Treibstoff muss demnach über das Blut zugeführt werden, und die Blutversorgung, die sich an der Größe der Arterien ablesen lässt, ist bei einem Gorilla etwa doppelt so hoch wie bei Lucy und ihren weiter entfernten Anverwandten, darunter auch Ardipithecus. Insgesamt wirkt es so, als hätten die Mitglieder der Ahnenreihe des Homo sapiens in den vergangenen Millionen Jahren aus einer schlechteren Startposition stark aufholen müssen, denn heute liegt der moderne Mensch bei einem Verhältnis von Gehirngröße zu Blutzufuhr, das dem der Menschenaffen entspricht, die allerdings verglichen mit diesen ein konkurrenzlos größeres Gehirn besitzen. Nach derzeitigem Kenntnisstand haben Australopithecinen keine Werkzeuge angefertigt, denn erst von ihren Nachkommen, den frühen Angehörigen der Gattung Homo existieren Hinweise auf ein Verhalten, das höhere kognitive Leistungen erfordert. Möglicherweise würden die heutigen Menschenaffen in einem fiktiven IQ-Test doch besser abschneiden.
Seit etwa 10000 Jahren schrumpft das Gehirn des Homo sapiens, wobei heute das Gehirnvolumen erwachsener Menschen weltweit zwischen 900 und 2100 Millilitern variiert und im Schnitt 1349 Milliliter beträgt Eine Untersuchung von Schädeln aus unterschiedlichen Jahrtausenden belegt, dass bei Männern aus Europa und Nordafrika das Gehirnvolumen seit der mittleren Steinzeit um etwa zehn Prozent abgenommen hat, während Frauen sogar siebzehn Prozent ihres Gehirnvolumens verloren. Eine mögliche Erklärung sind die milderen klimatischen Bedingungen, die sich seit damals auf der Erde ausbreiten, denn in kälteren Zeiten waren größere Körper von Vorteil, da sie Wärme besser speichern konnten. Als die Temperaturen stiegen, wurde das Leben der Menschen auch körperlich weniger anspruchsvoll, was weniger Körpermasse erforderlich machte. Zusätzlich wurden die Becken der Frauen schmäler, was eine Geburt von Kindern mit kleineren Köpfen und damit Gehirnen begünstigte.
Nach Ansicht von manchen Anthropologen hat der frühe Homo sapiens mit hoher Wahrscheinlichkeit denselben Verstand besessen hat Menschen der Neuzeit, wobei alles, was ihm fehlte, die Geschichte an Entdeckungen war, die hinter uns liegt. Manche sind sogar der Meinung, dass die Menschen in der Urzeit über eine höhere Intelligenz verfügten als heute, denn die intellektuellen Fähigkeiten der Menschheit nahmen mit dem Aufkommen der Landwirtschaft und dem starken Anwachsen der Bevölkerung vor rund 15000 Jahren ab, also mit dem Phänomen der Domestikation. Bekanntlich gibt es diesen Vorgang auch bei Tieren, die domestiziert werden, denn sie müssen nicht mehr für sich selber sorgen und dementsprechend auch weniger Probleme selbst lösen, sodass ihre Gehirne durch den fehlenden Selektionsdruck allmählich schrumpfen. Von den rund dreißig Tiergruppen, die vom Menschen domestiziert wurden, hat jede einzelne 10 bis 15 Prozent ihres Gehirnvolumens im Vergleich zu der ursprünglichen Art verloren. Dieses Phänomen geht unter anderem auch mit reduzierter Aggressivität, einer zierlicheren Statur, kleineren Zähnen und flacheren Gesichtern einher. Eine Studie, die die kognitiven Fähigkeiten von Wölfen und Hunden vergleicht, kam zu dem Ergebnis, dass Wölfe die besseren und vor allem hartnäckigeren Problemlöser sind, während Hunde relativ schnell bei ihren Herrchen nach Hilfe suchen und deren Signale besser interpretieren können. Das sind alles Merkmale, die mit den Veränderungen, die der moderne Mensch durchlaufen hat, in Einklang stehen. Die Gehirngröße ist beim Menschen seit der Steinzeit um gut zehn Prozent geschrumpft und liegt heute im Durchschnitt bei 1350 Kubikzentimetern. Der Cro-Magnon Mensch hatte hingegen noch ein Hirnvolumen von etwa 1500 Kubikzentimetern. Auch beim Menschen ist das Gehirn zwar insgesamt geschrumpft ist, doch hat sich das Stirnhirn stetig vergrößert, also in jenem Bereich, in dem das Sozialverhalten primär geregelt wird (Zimmerschied, 2016).
Die Vergrößerung des menschlichen Gehirns, insbesondere des Neocortex, während der Evolution steht in engem Zusammenhang mit unseren kognitiven Fähigkeiten wie Denken und Sprechen, wobei ein bestimmtes Gen (ARHGAP11B), das nur der Mensch besitzt, die Hirnstammzellen veranlasst, mehr Stammzellen zu bilden, eine wesentliche Voraussetzung für ein größeres Gehirn. Dieses Gen initiiert eine extreme Zellteilung, ähnlich wie bei Tumoren, doch läuft dieser Prozess kontrolliert ab und hört dann irgendwann wieder auf. Um seine Wirkung zu erforschen, wurde es unter anderem Embryonen von Weißbüschelaffen eingesetzt, die später dreißig Prozent mehr Hirnstammzellen als ihre Artgenossen ohne ARHGAP 11B entwickelten, wobei ihre Hirnrinde ähnlich gefaltet wie beim Menschen war.
Siehe dazu Aufbau des Gehirns.
Gehirngröße bei Raubtieren doch entscheidend
In einer Studie haben Forscher das Geschick, eine Box entriegeln, um an einen darin versteckten Leckerbissen zu gelangen, bei 39 Arten verglichen. Entscheidend für den Erfolg war tendenziell die Größe des Gehirns im Verhältnis zum Körper. Am erfolgreichsten waren Bären, die zu 70 Prozent herausfanden, wie sie ans Futter kommen. Kleinbären wie etwa Waschbären kamen zu 54 Prozent ans Futter, Marder zu 47 Prozent. Schlusslicht waren Erdmännchen oder Mungos , denn kein Vertreter dieser Gruppe konnte die Box öffnen. Die Ergebnisse widerlegen demnach die social brain-Hypothese, nach der Tiere, die in großen Sozialverbänden leben, besonders intelligent wären.
Gehirnreifung bei Huftieren beschleunigt
Bekanntlich müssen Huftiere sofort nach ihrer Geburt mit ihren Herden ziehen und kommen daher mit nahezu komplett ausgereifter Wahrnehmung und Motorik auf die Welt. Nun untersuchten Ernst et al. (2018) die Gehirnentwicklung bei Föten des Europäischen Wildschweins vom 35 Tage alten Embryonalstadium bis 30 Tage nach der Geburt. Ausgewachsene Wildschweine haben ein hochgradig gefurchtes Gehirn, wobei das grundlegende Muster bereits im 60 Tage alten Embryo erkennbar ist, also etwa nach der Hälfte der 114-tägigen Tragezeit, und bis zur Geburt ist das Furchungsmuster weitgehend ausgereift. Bereits 30 Tage vor der Geburt lassen sich in der Hirnrinde Neuronen erkennen, die auch im erwachsenen Gehirn noch zu finden sind, wobei diese Neuronen auch den Botenstoff GABA produzieren und in ihrer Wirkung hemmend sind. Bei Nagetieren und Fleischfressern lassen sich diese Neuronentypen der adulten Hirnrinde erst etwa zwei Wochen nach der Geburt beobachten. Diese Neuronentypen sind ihrem Erscheinungsbild nach bei Huftieren, Nagern und Carnivoren sehr ähnlich, doch der zeitliche Verlauf der Reifung ist bei Huftieren in die Fetalperiode verlagert.
Die unterschiedliche Gehirngröße bei Tieren
führt zwangsläufig zur Frage, warum die Evolution nicht auch in bei Arten zwangsläufig zur Entwicklung von von größeren Gehirnen führte. Aus evolutionsbiologischer Sicht bedeutet generell der enorme Energieverbrauch des Gehirns, dass im Laufe der Entwicklungsgeschichte die Kosten einer Größenzunahme mit dem Erreichen eines jeweils günstigen Verhältnisses nicht mehr lohnten, d. h., eine weitere Zunahme des Hirnvolumens im Vergleich zur Körpergröße konnten Tieren wie dem Fuchs, dem Rabe oder der Ratte keinen weiteren Überlebensvorteil verschaffen. Da aber ein leistungsfähiges Gehirn ein hohes Maß an Verhaltensflexibilität ermöglicht, sind besonders jene Arten damit ausgerüstet worden, die auf unterschiedliche Bedingungen reagieren mussten, wie etwa große Temperaturschwankungen oder Änderungen der Nahrungsverfügbarkeit. Somit liegt nahe, dass die Tiere der höheren Breitengrade vergleichsweise große Gehirne in Relation zu ihrer Körpermasse besitzen müssten. Fristoe & Botero (2019) haben die relative Gehirngröße von über zweitausend Vogelarten miteinander verglichen und fanden bei den Arten, die das ganze Jahr über im Norden leben, entweder ein vergleichsweise großes oder ein eher kleines Gehirn. Abgesehen von den Zugvögeln fehlen Arten mit mittlerer Gehirngröße fast vollständig in den kalten und klimatisch variablen Lebensräumen der hohen Breitengrade, wobei es sehr viele Arten gibt, die in diesen Breitengraden auch mit vergleichsweise kleinen Gehirnen gut mit den Bedingungen der Umwelt zurechtkommen. Es zeigte sich, dass kleinhirnige Arten in diesen Umgebungen Strategien anwenden, die mit einem großen und damit teuren Gehirn nicht möglich wären, d. h., diese Arten ernähren sich z. B. von leicht verfügbaren, aber schwer verdaulichen Ressourcen wie Pflanzenknospen, Baumnadeln oder sogar Zweigen. Diese Nahrung können diese Tiere auch bei harten Winterbedingungen finden, aber sie ist faserig und erfordert zur Verdauung einen großen Darm. Darmgewebe ist allerdings energetisch ähnlich teuer wie Gehirngewebe, sodass sich diese Vögel nicht beides leisten können bzw. ein Mittelweg in dem Lebensraum nicht günstig zu sein scheint. Ein großes Gehirn zahlt sich unter den Bedingungen des Nordens offenbar tendenziell erst ab einem eher gehobenen Niveau aus, wobei von den Vorteilen der Intelligenz etwa die Rabenvögel profitieren. Damit wird deutlich, dass sich das Gehirn evolutionär nicht isoliert entwickelt, sondern Teil einer Reihe von Anpassungen darstellt, die Lebewesen helfen, in ihrem Umfeld erfolgreich zu sein.
Gehirne von Fischen werden im warmen Wasser größer, aber diese nicht intelligenter
Die Elritze, ein Kleinfisch aus der Familie der Karpfenfische und etwa fingerlang, zählt heute trotz ihrer schlauen Überlebenstaktiken zu den gefährdeten Fischarten. Da die kleinwüchsige Elritze als Speisefisch nicht in Frage kommt, fehlt das allgemeine Interesse daran. Für den drastischen Rückgang der Elritzen sind einerseits harte Verbauungen der Gewässer etwa durch Wasserkraftwerke, die Zerstörung von Nebenarmen und Seichtwasserzonen und der einseitige Schutz aller fischfressenden Tiere, andererseits aber auch wärmere Temperaturen der Gewässer verantwortlich. Fische, die im warmen Wasser aufwachsen, entwickeln im Vergleich zu jenen in kühlerem Wasser größere Gehirne, doch schneiden diese bei Tests zur Futtersuche schlechter ab als ihre Artgenossen mit kleineren Gehirnen. Das liegt daran, dass die Fische im wärmeren Wasser mehr Energie benötigen, denn ihr Stoffwechsel und Sauerstoffverbrauch hat sich an die wärmeren Temperaturen angepasst. Obwohl die Elritzen also größere Gehirne aufweisen, bewältigten sie die täglichen Aufgaben schlechter, denn das Gehirn hat nicht an neuronaler Dichte zugenommen, benötigt aber weitere Energieressourcen, also mehr Futter, finden dieses aber schlechter.
Das menschliche Gehirn auf dem Weg zu einer Schwarmintelligenz?
Literatur
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Man vermutet, dass die Verringerung der Gehirngröße beim Menschen deren sozialen Systemen zu verdanken ist, denn tatsächlich hat der Austausch von Wissen und die Entscheidungsfindungen auf Gruppenebene dazu geführt, dass das einzelne Gehirn die Sammlung und Sortierung von Informationen besser bewältigen kann und somit weniger Energie verbraucht, d. h., Menschen leben in sozialen Gruppen, in denen mehrere Gehirne zur Entstehung einer kollektiver Intelligenz beitragen.