Übe dein Ohr im Überhören.
Emanuel Wertheimer
Menschliche Urängste und der mächtige Wunsch nach Bindung spielen eine bedeutsame Rolle beim Loslassen. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist biologisch verankert, sodass Unsicherheit Unbehagen und Angst aus löst, wobei Angst das Bindungssystem aktiviert. Wenn Menschen etwas oder jemanden loslassen müssen, sich verändern, brauchen sie erst recht das Gefühl, verbunden zu sein. Wie leicht oder schwer Menschen loslassen können, hängt mit früheren Trennungserfahrungen zusammen, wobei die Basis für diese Fähigkeit die ersten Bindungserfahrungen als Baby und Kleinkind bilden. Kinder, die früh eine stabile Bindung zu den Eltern entwickeln können, können sich später auch besser in andere Menschen hineinversetzen, besser sprechen, leichter Freundschaften schließen und sich besser konzentrieren. Kinder, die keine sichere Bindung aufbauen, unterdrücken ihr Bedürfnis nach Nähe, ziehen sich eher zurück und sind insgesamt nicht so widerstandsfähig gegenüber psychischen Belastungen. Man unterscheidet verschiedene Formen der kindlichen Bindung:
- Sichere Bindung: Je sicherer und geschützter sich ein Kind in dieser Phase fühlt, desto leichter fallen ihm später sinnvolle, notwendige Ablösungsprozesse. Solche Kinder entwickeln ein stabiles Urvertrauen. Sie kommen beim Spielen kurz bei der Mutter vorbei zum Kuscheln und ziehen dann wieder los, um auf dem Spielplatz die Welt zu erkunden. Bindung und Neugier sind zwei Grundbedürfnisse, die gekoppelt sind. Verlustangst etwa behindert die kindliche Entdeckerlust.
- Unsichere Bindung: Wer als Kleinkind viele Zurückweisungen erlebt hat, dessen Bedürfnisse nach Nestwärme und Nähe nicht gestillt wurden, kann zu einem Vermeider werden. Man hat gelernt, das Anlehnungsbedürfnis, die Ängste zu unterdrücken. Diese Kinder gebärden sich so, als seien sie sehr selbstständig und bräuchten keine Nähe, sie funktionieren perfekt. Solche Erwachsenen haben aber oft Probleme, sich später auf Beziehungen einzulassen, wirken beweglich und unabhängig. Beim Loslassen zeigen sie oft Coolheit und Gelassenheit nach außen, sehnen sich aber nach innerer Verbundenheit.
- Unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten: Diese Gruppe von Menschen tut sich am schwersten, denn solche Menschen haben in der frühen Kindheit vielleicht eine Mutter erlebt, die zwischen Zuwendung und Zurückweisung, zwischen Gehenlassen und Festhalten schwankte. So wird das Verhalten der Bezugsperson unberechenbar, das Kind beginnt zu klammern, denn es kann sich nicht darauf verlassen, dass diese Person zurückkommt. Als Erwachsene haben ehemals emotional verunsicherte Kinder große Angst vor Veränderung, neigen dazu, sich in Beziehungen zu verstricken, brauchen meist erst einen neuen Partner oder einen neuen Job, bevor sie sich von Altem lösen können.
Siehe dazu Die frühkindliche Bindung an die Bezugsperson und Der Einfluss früher Bindungserfahrungen.
Anmerkung: Übrigens ist neben dem Begriff der Verdrängung kaum ein psychologischer Begriff so oft missverstanden worden wie der des Urvertrauens. Ein Grund könnte ein Übersetzungsfehler gewesen sein, denn als Erik Homburger Erikson 1950 in seinem Buch Childhood and Society von der Bewältigung der ersten Entwicklungsaufgabe im Zyklus des Lebens schrieb, nutzte er dafür den Begriff basic trust. Ein paar Jahre später übersetzte Marianne von Eckardt-Jaffé den englischen Ausdruck für die deutsche Ausgabe einprägsam aber nicht ganz korrekt. Basic trust wäre im Deutschen eigentlich „Grundvertrauen„, sie aber entschied sich für das, was im Englischen primal trust gewesen wäre.
Literatur
Stangl, W. (2019, 29. Juli). Zehn Schritte des Loslassens. arbeitsblätter news.
https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/zehn-schritte-des-loslassens/
OÖN vom 13. Juni 2011
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Beim Loslassen hindert Menschen vor allem ein Fehler in ihrem Denken und ihrer Einstellung daran, Menschen, Dinge oder Lebensinhalte im richtigen Moment loszulassen, nämlich dass man Loslassen mit Versagen verwechselt. Nach Ansicht von Experten und Expertinnen führt eine Mischung aus gesellschaftlicher Prägung und inneren Ansprüchen in vielen Lebensbereichen wie Partnerschaft oder anderen Beziehungen zu immer demselben fatalen Verhalten, dass man verbissen an Dingen festhält und seine Kraft in einen längst verlorenen Kampf investiert, anstatt manche Dinge aufzugeben, abzuhaken, loszulassen und sich Neuem zu widmen.