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Die frühe Gehirnentwicklung

Bereits in der dritten Schwangerschaftswoche beginnt das kindliche Gehirn und das Nervensystem sich zu entwickeln, bis zum Ende des zweiten Monats, also zu einem Zeitpunkt, an dem eine Frau oft erst von ihrer Schwangerschaft erfährt, sind Gehirn und Rückenmark bereits fast vollständig angelegt, auch wenn die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. In den frühen Stadien der Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems werden sehr viele Zellen gebildet, wobei auch Neuronen, die nicht in der Lage sind, eine bestimmte Anzahl an Verschaltungen auszubilden, in der Folge auch wieder absterben, d. h., es gibt schon in dieser Phase der Gehirnentwicklung Aufbau- und Abbauprozesse, wobei auch die Abbauprozesse wichtig sind, damit im Gehirn effiziente neuronale Netzwerke ausgebildet werden können. Neuronen müssen bei der Entwicklung des Klein- und Hinterhirns zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Ort ihrer Entstehung zum Ort ihrer Wirkung aktiv migrieren, wobei auf dieser Wanderung durch das embryonale Gehirn sich die Zellen umbilden und zu funktionellen Neuronen werden. Es konnte nun in neueren Forschungen (Theisen et al., 2018) gezeigt werden, dass Neurotransmitter bei der Migration, bei der Differenzierung oder bei der Ausformung der nerven-typischen Zellgestalt eine Rolle spielen könnten. Mithilfe eines minimalinvasiven Mikroskopie-Verfahrens konnten migrierende Nervenzellen unter verschiedenen Testbedingungen in lebenden Zebrafisch-Embryonen beobachtet werden, die sich besonders als Tiermodell für das menschliche Nervensystem eigenen, da die Fische durchsichtig sind. Dabei konnte man zunächst eine erhöhte intrazelluläre Calcium-Konzentration der Neuronen sichtbar machen, eine Reaktion der Zellen auf die Neurotransmitter. Anschließend identifizierten sie die beteiligten Neurotransmitter, indem die Neuronen bei ihrer Wanderung gefilmt und gefilmt und die Bewegung und die Geschwindigkeit der Neuronen festgehalten wurde. Botenstoffe beeinflussten dabei nur die Geschwindigkeit, aber nicht die Richtung der Wanderung, allerdings beeinflussten einige Neurotransmitter die Geschwindigkeit nur in bestimmten Arealen des Klein- und Hinterhirns, entweder als Beschleuniger oder Bremser.

Das menschliche Gehirn verdankt bekanntlich sein charakteristisches, gefaltetes Aussehen seiner äußeren Schicht, der Großhirnrinde, wobei sich während der Evolution des Menschen der Neocortex vergrößerte, der evolutionär jüngste Teil der Großhirnrinde, sodass sich dieser falten musste, um in den begrenzten Raum der Schädelhöhle hinein zu passen. Dadurch erst ermöglichte der menschliche Neocortex höhere kognitive Fähigkeiten wie das Denken oder die Sprache. Ausgelöst wird das vermutlich durch das menschenspezifische Gen ARHGAP11B, das neuronale Vorläuferzellen dazu veranlasst, über einen längeren Zeitraum hinweg mehr dieser Zellen zu bilden, sodass ein vergrößerter Neocortex entsteht. Es gibt dabei zwei Arten von neuronalen Vorläuferzellen im Neocortex von Säugetieren: apikale und basale, wobei ein Typ der letzteren, die basalen radialen Gliazellen, eine Hauptursache für das Wachstum des Neocortex während der embryonalen Entwicklung darstellen. Man hatte schon früher herausgefunden, dass Mäuse unter dem Einfluss dieses Gens im embryonalen Neocortex viel mehr neuronale Vorläuferzellen produzieren und sogar ihren normalerweise glatten Neocortex falten können. Nun haben Kalebic et al. (2018) untersucht, was ARHGAP11B im Gehirn von Frettchen bewirken kann, denn Frettchen haben einen größeren Neocortex als Mäuse und besitzen mehr basale radiale Gliazellen. Es zeigte sich, dass das Gen ARHGAP11B die Anzahl der basalen radialen Gliazellen deutlich erhöhte und auch das Zeitfenster verlängerte, in dem die basalen radialen Gliazellen Neuronen produzierten. Infolgedessen enthielten diese Frettchen-Hirne mehr Neurone und hatten somit einen größeren Neocortex. Nun vermutet man, dass dieses human-spezifisches Gen die Bildung von mehr basalen radialen Gliazellen in einem gefalteten Neokortex auslösen kann.

Die Entwicklung des Gehirns im Embryo ist ein hochkomplexer Prozess, wobei zahllose Zellen von ihrem Entstehungsort zu der Stelle wandern, an der sie später gebraucht werden. Martinez-Chavez et a. (2018) haben bei der Hirnentwicklung von Mäuse-Embryonen einen möglichen Mechanismus identifiziert, wonach ein Bündel von Nervenfasern als eine Art Schienenweg fungieren könnte, an dem entlang die Zellen zu ihrem Ziel gelangen. Dabei konzentrierte man sich auf einen Pool neuronaler Vorläufer-Zellen, der sich etwa zehn Tage nach der Befruchtung im Hinterhirn entwickelt. Diese reifen zu Nervenzellen heran und migrieren dann zu anderen Regionen im entstehenden Hinterhirn. Bekannt ist, dass ein Protein namens GLI3 etwas mit der Organisation des frühen Gehirns zu tun hat, sodass man im Versuch zunächst die GLI3-Produktion in Mäusen komplett abschaltete, wobei in den Embryonen daraufhin die Wanderung dieser Nervenzellen stark gestört war. Unterband man die GLI3-Produktion aber lediglich in den sich entwickelnden Nervenzellen, traten diese ganz normal den Weg in ihre Zielregionen an. GLI3 wird also nicht direkt benötigt, um diese Funktion zu entwickeln. Allerding gibt es außerhalb des Gehirns und Rückenmarks, dem sogenannten zentralen Nervensystem, bei Tieren noch zahllose weitere Nervenbahnen und Nervenzellen, die in ihrer Gesamtheit als peripheres Nervensystem bezeichnet werden. Sie sind beispielsweise für die Übermittlung elektrischer Impulse an die Muskulatur verantwortlich. Obwohl periphere Nervenzellen außerhalb des Gehirns liegen, bilden diese auch Fortsätze aus, die ins Gehirn hinein reichen, wobei sie dies nicht einzeln tun, sondern in Form ganzer Bündel, den Nerventrakten. Man konnte nun zeigen, dass sich ein Teil der Neurone bei der Wanderung zu ihrer Zielregion an einem dieser Trakte zu orientieren scheint, d. h., die Zellen bewegen sich an ihm entlang. Das funktionierte aber nur in Mäuse-Embryonen, die GLI3 produzierten, denn wenn ihnen GLI3 fehlte, war die Bündelung der Nervenfortsätze viel lockerer als normal. Man vermutet nun, dass die Ausfransung der Nerventrakte zum Verlust dieser Schienenfunktion führt.

Durch die in dieser Zeit entstehenden neuronalen Netze kann ein Embryo bereits im Mutterleib Informationen aufnehmen und verarbeiten, etwa die Stimmen der Mutter oder anderer Menschen, denn man hat nachgewiesen, dass ein Kind schon in diesen frühen Phasen den Sprachrhythmus der Muttersprache verinnerlicht und später Menschen wiedererkennt. Viele Spuren im Gehirn entstehen erst dann, wenn der Säugling ein hohes Maß an Zuwendung und Zuneigung erhält, wenn ihm seine Eltern die Welt der Gefühle, Gerüche, Töne, Dinge und Bewegungen eröffnen, wodurch neuronale Schaltkreise entstehen, die Gedanken, Muster, Bilder und Fakten widerspiegeln. Die gerade im Aufbau befindlichen neuronalen Strukturen sind aber äußerst empfindlich gegenüber Einflüssen von außen, wobei vor allem Alkohol, Medikamente oder Nikotin zu Schädigungen führen können.

Bei Neugeborenes weist das Gehirn bereits deutlich mehr als hundert Milliarden Neuronen auf, wobei es nach wie vor vorwiegend mit Reflexen reagiert, denn die Verbindungen zwischen den angelegten Clustern von Neuronen müssen sich erst entwickeln, wobei der Zeitpunkt der Bildung von Synapsen von Gehirnregion zu Gehirnregion unterschiedlich ist. Bei Babys vermehrt sich die Zahl der Synapsen während mancher Zeiträume geradezu explosionsartig, wobei die ersten drei Lebensmonate vor allem der Entwicklung der Sinne gewidmet sind. Das menschliche Gehirn wächst dabei unmittelbar nach der Geburt am schnellsten und erreicht innerhalb von drei Monaten die Hälfte der Größe im Erwachsenenalter, wobei das männliche Gehirn in diesem Alter schneller wächst als das weibliche. Die Gehirne von Neugeborenen wachsen dabei pro Tag im Durchschnitt um ein Prozent, wobei sich am Ende der neunzig Tage dieser Wert auf 0,4 Prozent am Tag verlangsamt. Allein das Großhirn besteht aus einem Netzwerk von über zwanzig Milliarden Neuronen, von denen jede einzelne mit jeweils bis zu zehntausend anderen Neuronen verbunden sein kann. Das rascheste Wachstum zeigt das Cerebellum, jener Bereich des Gehirns, der mit der Kontrolle von Bewegungen in Zusammenhang steht, d. h., die Größe dieses Bereiches verdoppelt sich innerhalb dieser Zeitspanne. Am langsamsten entwickelt sich der Hippocampus, jener Bereich, der für Erinnerungen steht, wobei dies einen Hinweis auf die relative Bedeutung dieser Areale für Kleinkinder darstellen dürfte (Stangl, 2017). In den ersten Lebensmonaten nimmt aber nicht nur die Größe des kindlichen Gehirns zu, sondern die Nervenfasern werden auch gebündelt und ummantelt, sodass Informationen im Gehirn schneller weitergeleitet werden können.


Übrigens ist der Kopf beim Neugeborenen jener Körperteil, der am schnellsten wächst, da das Gehirn besonders rasch größer wird, denn dreihundert Gramm wiegt etwa das Gehirn bei einem Neugeborenen, während es im Alter von zwei Jahren schon ein drei Mal so großes Gehirn mit neunhundert Gramm besitzt. Aus der Kopfgröße in Relation zur Körperlänge und zum Gewicht des Kindes kann man das Wachstum des Gehirns beurteilen, ob es sich gut und gleichmäßig entwickelt. Bei der Entwicklung des Kopfumfange sind Vererbung und Gene mitentscheidend, sodass sich die Norm immer innerhalb einer gewissen Spannbreite bewegt. Bei der Geburt haben Kinder im Durchschnitt einen Kopfumfang von etwa 34 cm, mit drei Monaten zwischen 38 und 42 cm, mit einem halben Jahr zwischen 41 und 44 cm, mit einem dreiviertel Jahr zwischen 42 und 46 cm und mit einem Jahr zwischen 43 und 47 cm. Der Kopfumfang wächst nach der Geburt also etwa ein bis zwei Zentimeter pro Monat, wobei große Neugeborene für gewöhnlich etwas langsamer wachsen als kleine. Besonders Frühgeburten nehmen in den ersten Monaten ihres Lebens besonders an Kopfumfang zu und können dadurch viele Entwicklungsnachteile der verfrühten Geburt wettmachen, sodass sie mit zwei Jahren zumeist so sehr aufgeholt haben, dass sie von Normalgeborenen nicht mehr zu unterscheiden sind.


Im Alter von etwa zwei Jahren wird eine solche Dichte der Nervenfasern erreicht, dass das Kleinkind in der Lage ist, auch komplexere Bewegungsvorgänge zu bewältigen, wobei die Vernetzung zwischen den Nervenzellen mit drei Jahren ihren Höhepunkt erreicht, da jede Nervenzelle mit Tausenden anderen verbunden ist. Ein Kind hat in diesem Alter etwa doppelt so viele Verbindungen wie Erwachsene, wobei die Art und Anzahl der sich formenden und bestehen bleibenden Synapsen stark mit der jeweiligen Umwelt und den in dieser erlernten Fähigkeiten zusammenhängt, d. h., Kinder sind einerseits zwar extrem anpassungs- und lernfähig, benötigen andererseits aber auch einen entsprechenden Input (rich learning environment). Es wurde in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen, dass sich ein Kind in einer anregungsreichen Umgebung besser entwickelt als in einer Umgebung, die arm ist an Anreizen.

Ein sechs Monate altes Baby, kann Erlebtes etwa nur 24 Stunden lang abrufen, ein neunmonatiges besitzt schon ein Erinnerungsvermögen von einem Monat, d. h., die Erinnerungszeiträume entwickeln sich in kleinen Schritten und es setzt das Langzeitgedächtnis ein. Erst ab dem Alter von etwa drei Jahren werden sehr einprägende Erlebnisse abgespeichert, was daran liegt, dass in diesem Alter die Sprachentwicklung voll eingesetzt hat, die eine Vorausssetzung für Erinnerungen bildet. Allerdings werden unbewusste Vorgänge wie starke Emotionen oder gravierende Erfahrungen allerdings auch vor dieser Zeit nachhaltig gespeichert.

Dadvand et al. (2017) haben in einer Untersuchung festgestellt, dass das Gehirn von Kindern, die auf dem Land leben und von viel Natur umgeben aufwachsen, besser funktioniert offenbar als bei Kindern aus der Stadt. Man untersuchte mithilfe von Satellitenaufnahmen, wo Kinder seit ihrer Geburt aufwachsen und wie grün die Umgebung ist, was mit dem Aufbau der Gehirne der Kinder und Testleistungen zu Gedächtnis und Aufmerksamkeit verglichen wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass Kinder, die viel Natur um sich hatten, in einigen Gehirnregionen mehr weiße und graue Masse entwickelt hatten, was ihre Gedächtnisleistungen verbesserte und sie aufmerksamer machte. Offenbar ist der Mensch schon von sehr früh an stark mit der Umgebung verbunden und dass grüne Städte einen positiven Effekt darauf haben haben.

Siehe dazu auch „Das menschliche Gehirn“ (Stangl, 2015).

Literatur

Blaß, S. (2017). So entwickeln sich Gehirn und Nervensystem bei Kindern.
WWW: http://www.t-online.de/leben/familie/schwangerschaft/id_82665908/so-entwickeln-sich-gehirn-und-nervensystem.html (17-11-12)
Nereo Kalebic, Carlotta Gilardi, Mareike Albert, Takashi Namba, Katherine R. Long, Milos Kostic, Barbara Langen & Wieland B. Huttner (2018). Human-specific ARHGAP11B induces hallmarks of neocortical expansion in developing ferret neocortex. eLife, doi:10.7554/eLife.41241.
Martinez-Chavez, Erick, Scheerer, Claudia, Wizenmann, Andrea & Blaess, Sandra (2018). The zinc-finger transcription factor GLI3 is a regulator of precerebellar neuronal migration. Development, doi:10.1242/dev.166033.
Payam Dadvand, Jesus Pujol, Dídac Macià, Gerard Martínez-Vilavella, Laura Blanco-Hinojo, Marion Mortamais, Mar Alvarez-Pedrerol, Raquel Fenoll, Mikel Esnaola, Albert Dalmau-Bueno, Mónica López-Vicente, Xavier Basagaña, Michael Jerrett, Mark J. Nieuwenhuijsen, and Jordi Sunyer (2017). The Association between Lifelong Greenspace Exposure and 3-Dimensional Brain Magnetic Resonance Imaging in Barcelona Schoolchildren. Environmental Health Perspectives, 126, doi:10.1289/EHP1876.
Rigos, Alexandra (2008). Evolution des Gehirns. GEOkompakt Nr. 15 – 06/08. WWW: http://www.geo.de/GEO/heftreihen/geokompakt/57363.html (08-06-21)
Stangl, W. (2017). Das menschliche Gehirn – Überblick. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/ (2015-11-14).
Theisen, U., Hennig, C., Ring, T., Schnabel, R. & Köster R. W .(2018). Neurotransmitter-mediated activity spatially controls neuronal migration in the zebrafish cerebellum. PLoS Biol 16(1): e2002226. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.2002226.


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