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Lesenlernen reduziert Gehirnareale zur Gesichtserkennung

Wer Bücher liest, schaut nicht nur bis zum Zaun.
Johann Wolfgang von Goethe

*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Da die Menschen die Schrift erst relativ spät in ihrer Geschichte erfunden haben, ist es sehr unwahrscheinlich, dass das menschliche Gehirn über evolutionäre Prozesse spezielle Areale für das Lesen ausgebildet hat. Das Gehirn muss zum Lesen und Schreiben zahlreiche Wahrnehmungs- und Denkfunktionen genau abstimmen, etwa basale visuelle Fähigkeiten, die phonologische Wahrnehmung, das Langzeit- und das Arbeitsgedächtnis. Daher müssen Menschen jahrelang lernen und üben, bis sich Lesen und Schreiben so tief einprägt, dass sie beides mühelos beherrschen, wodurch sich auch Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns verändern.

Lesen ist immer ein Denken mit fremdem Gehirn, denn indem man sich in andere Welten des Denkens hineinbegibt und hineinversetzt, erhöht man die eigene Komplexität des Denkens. Man findet nach Precht zwar keine Antworten auf die Fragen des Lebens, doch man schult sein eigenes Denken und möbliert damit sein Bewusstseinszimmer.

Beim Lesenlernens werden Hirnbereiche, die für das Erkennen von komplexen Objekten wie Gesichtern zuständig sind, in Anspruch genommen, um Buchstaben in Sprache zu übertragen, wodurch sich einige Gebiete des visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen dem Seh- und Sprachsystem entwickelt haben. Dabei beschränken sich die Veränderungen nicht nur auf die Großhirnrinde, sondern es kommt auch zu Umstrukturierungen im Thalamus und den Hirnstamm, wobei diese der Sehrinde helfen, wichtige Informationen aus der Flut visueller Reize zu filtern.

Entwicklung der Schrift: Steinzeitlichen Höhlenmalereien waren zwar nicht an den sprachlichen Ausdruck gebunden, hielten aber ähnlich wie geschriebene Wörter Informationen fest, die sowohl dem, der sie schuf, als auch anderen Menschen etwas sagten. Die frühen Bilderschriften vermittelten Botschaften, indem sie in stilisierter Form unter anderem Tiere, Pflanzen, Behausungen und Tätigkeiten zeigten. Zu diesen Bilderschriften gehört die der Sumerer, die bereits für das vierte vorchristliche Jahrtausend belegt ist. Der Nachteil solcher Schriften besteht darin, dass die Vielzahl möglicher Botschaften nur mit einer entsprechend großen Zahl von Bildern vermittelt werden kann. Deshalb bedeutete es einen Fortschritt, dass sich aus den stilisierten Zeichen für Wörter im Laufe der Zeit Silben- und Lautzeichen, die Vorläufer der heutigen Buchstaben, entwickelten. So entstand etwa in Mesopotamien aus der Bilder- die Keilschrift, und die Ägypter entwickelten abgekürzte Formen der Hieroglyphenschrift. Die griechische Schrift ist nach Ansicht vieler Experten über Zwischenschritte aus ägyptischen Schriften entstanden.

Bei einem Vergleich von Lesefähigen, Analphabeten und Personen, die entweder als Kinder oder erst als Erwachsene das Lesen gelernt hatten, zeigte sich, dass alle Lesefähigen horizontale, zeilenförmige orientierte visuelle Stimuli besser verarbeiten konnten als die völligen Analphabeten. Die Forschung befasst sich dabei mit zwei grundlegenden Fragen: Welche Voraussetzungen braucht es, damit Menschen Lesen und Schreiben überhaupt erlernen können. und wie beeinflusst diese komplexe Fähigkeit die Wahrnehmung und unser Denken? Vergleiche zwischen guten Lesern im Erwachsenenalter und Menschen gleichen Alters, die nie lesen gelernt haben oder die Differenzen zwischen Kindern, die leicht lesen lernen, und denen, die sich schwertun und möglicherweise eine Leseschwäche haben, sind dabei aufschlussreich. Besonders bei Lese-Rechtschreib-Störungen ist es oft schwierig zu unterscheiden, ob damit verbundene Defizite eine Ursache dafür darstellen oder ob sie deswegen auftreten, weil bessere Leser gleichen Alterns diese kognitiven Fähigkeiten mit dem Lesen geübt haben.

Menschen, die früh Lesen gelernt haben, besitzen auch eine kleinere Region des linken occipitaltemporalen Cortex und reagieren auf Bilder von Gesichtern anders als Analphabeten. Die Fähigkeit des Lesens, steht also wie jede Form von erworbenen Fähigkeiten, auch in Konkurrenz zu anderen Leistungen des visuellen Cortex. Bei den Lesekompetenten hatte sich auch eine Gehirnregion entwickelt, die auf die Verarbeitung von Wörtern spezialisiert ist, wobei bei diesen auch ein Areal verkleinert war, die für die visuelle Verarbeitung von Gesichtern zuständig ist. Offensichtlich hat hier auf Kosten des Lesens ein neuronaler Schrumpfprozess stattgefunden, wobei noch unklar ist, ob dieser tatsächlich praktische Auswirkungen für das Erkennen anderer Menschen im Alltag hat.

Das Lesen beansprucht und verändert das menschliche Gehirn übrigens sehr grundlegend, denn als man die Gehirnaktivitäten indischer AnalphabetInnen untersuchte, die im Erwachsenenalter das Lesen lernten, veränderten sich bei den StudienTeilnehmer und Teilnehmerinnen auch die evolutionär alten Regionen wie der Thalamus und der Hirnstamm. Im Detail: Hervais-Adelman et al. (2019) versuchten in der Studie mit indischen Probanden und Probandinnen, von denen ein Drittel zu Beginn nicht alphabetisiert war und die sechs Monate lang in Lesen und Schreiben unterrichtet wurde, diese postulierte Zweckentfremdung der visuellen Areale des zu überprüfen. Andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren zum einen AnalphabetInnen, zum anderen versierte LeserInnen. Während die Probanden und Probandinnen Sätze, Buchstaben und nicht orthographische Reize wie Gesichter lesen bzw. erkennen sollten, wurde die Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie aufgezeichnet, um Unterschiede zwischen den Teilnehmern sowie die Veränderungen durch das Schrifttraining zu untersuchen. Weder bei den erfahrenen noch bei den neu geschulten LeserInnenn waren die allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeiten wie die Erkennung von Gesichtern, Gebäuden und anderen Objekten in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Interessanterweise wurde das Gehirn von Alphabetisierten bei Buchstaben wie Gesichtern recht ähnlich aktiviert, anders als bei ihren nicht des Lesens Mächtigen, wobei LeserInnen sogar stärker auf andere nicht sprachliche visuelle Reize reagierten als nicht alphabetisierte Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Nach Meinung der Autorinnen hat Lesen sogar einen positiven Einfluss auf andere Wahrnehmungsfähigkeiten.

Funktionaler Analphabetismus hat nach neueren Untersuchungen nicht nur soziale, sondern auch neurobiologische Ursachen. Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie und Elektroenzephalografie  untersuchte man, welche neuronalen Netzwerke des Gehirns am Leseprozess beteiligt sind. Man fand, dass die Nervenzellen, die für die auditive Wahrnehmung zuständig sind, bei funktionalen Analphabeten schlechter ausgebildet sind als bei Erwachsenen mit normalen Lesefähigkeiten. Funktionale Analphabeten können akustische Reize, die oft nur Millisekunden dauern, nicht unterscheiden, sodass ähnlich klingende Laute wie „ba“, „pa“, „ta“ und „da“ für funktionale Analphabeten kaum zu erkennen sind. Die Fähigkeit, solche Laute zu unterscheiden ist aber eine Grundvoraussetzung für eine gut ausgebildete Lese- und Schreibkompetenz.


Lesen soll sogar gesund sein und das Leben verlängern, denn angeblich haben Studien der Yale University ergeben, dass das Lesen nicht nur Stress verringert, sondern Menschen auch länger leben lässt. Dann wird empfohlen:

  • Lesen Sie regelmäßig, dann helfen Sie Ihrem Geist, sich vor Stress zu schützen. Dabei entspannen Sie nicht nur, sondern fördern auch Ihre Hirnaktivität.
  • Ihre Gehirnzellen beginnen so besser zu arbeiten. Je vertiefter Sie in Ihre Lektüre einsteigen, desto mehr tauchen Sie in den Leseprozess ein und vergessen Ihre alltäglichen Sorgen.
  • Je mehr Sie lesen, desto mehr trainieren Sie Ihr Gehirn. Auch Ihr Wissen wird dadurch gesteigert, da Sie sich immer wieder neuen Themen widmen, die Sie aufnehmen.
  • Bevorzugen Sie es zum Beispiel, die gleichen Bücher mehrmals zu lesen, dann fördern Sie Ihre Sprache. Denn Ihr Gehirn merkt sich nach und nach immer mehr Wörter, Ausdrücke und bestimmte Begriffe, die sich mit jedem Mal immer mehr in Ihrem Gehirn verankern.
  • Lesen Sie mindestens ein Kapitel täglich, dann können Sie davon ausgehen, dass Ihre emotionale Intelligenz gesteigert wird. Das bedeutet auch, dass Ihre Seele durchs Lesen gestärkt wird.
  • Daher haben Menschen, die viel Lesen, im Durchschnitt eine etwa 2zwanzig Prozent höhere Lebenserwartung als Menschen, die nie lesen.

Literatur

Hervais-Adelman, Alexis, Kumar, Uttam, Mishra, Ramesh K., Tripathi, Viveka N., Guleria, Anupam, Singh, Jay P., Eisner, Frank & Huettig, Falk (2019). Learning to read recycles visual cortical networks without destruction. Science Advances, doi:10.1126/sciadv.aax0262.
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnLernen.shtml (12-11-21)
http://www.weser-kurier.de/startseite_artikel,-wie-lesen-das-hirn-praegt-_arid,1608942.html (17-06-07)


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